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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk
Autoren: Heinrich Wefing
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Das Urteil
    Der 12. Mai 2011 ist ein milder, sonniger Morgen in München. Ein paar Kastanien blühen noch, vor den Cafés sitzen die Menschen in leichten Kleidern, die Sonnenbrillen im Haar. Nur John Demjanjuk wird nicht viel von dieser frühsommerlichen Heiterkeit registriert haben. Für ihn ist dies nicht irgendein Tag im Mai. Es ist der Tag der Entscheidung. Der Tag, an dem die Schwurgerichtskammer des Landgerichts München befinden wird, ob er den Rest seines Lebens in Haft bleibt oder ob er noch einmal, ein letztes Mal, in Freiheit kommt. Seit 1977 wird gegen den 91 Jahre alten Demjanjuk ermittelt, fast elf Jahre hat er in Haft gesessen, in den USA, in Israel, jetzt in Deutschland. Nun gibt es keinen Aufschub mehr, keine Ausflüchte, die Zeugen sind gehört, die Akten wurden sorgsam studiert, jetzt wird ein Urteil fallen. Der 12. Mai 2011 ist der Endpunkt eines halben Lebens vor Gericht.
    Ein graues Sweatshirt hat John Demjanjuk an diesem Morgen angezogen, eine schwarze Hose, weiße Socken und dunkle Schuhe. Er hat in seiner Zelle im Krankentrakt der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim gefrühstückt, und dann hat ihn ein Krankentransporter in das Strafjustizzentrum am Stiglmaierplatz gebracht, wie so oft in den letzten Monaten. Vielleicht hat Demjanjuk etwas von der vorüberfliegenden Stadt erahnt, den blauen Himmel wenigstens, über den ein paar Wolken ziehen, oder das Grün der Bäume. Immer wieder ist der 91-jährige seit November 2009 so durch München gefahren worden. Dochdieses wird die letzte Fahrt werden. Nach achtzehn Monaten und 92 Verhandlungstagen wird das Urteil über den Mann fallen, der angeklagt ist, von März bis September 1943 bei der grausamen Ermordung von mindestens 27.900 Juden im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor im damals besetzten Polen geholfen zu haben.
    Schon früh am Morgen, als Demjanjuk noch beim Frühstück sitzt, haben Kamerateams vor dem Gerichtsgebäude ihre Stative aufgebaut. Irgendwann ist ein kräftiger Mann mit einem großen Plakat neben ihnen aufgetaucht. «Menschenwürde fordert Freiheit für Demjanjuk», steht da in roter Schrift auf gelbem Karton und gleich daneben, auf einem zweiten, viel kleineren Schild: «Ich bin kein Nazi». Begierig stürzen sich die Fotografen und Reporter auf den einsamen Demonstranten.
    Um zehn Uhr soll die Hauptverhandlung ein letztes Mal eröffnet werden, um acht Uhr wird der Saal A 101 aufgeschlossen, in dem die Anklage gegen John Demjanjuk seit dem 30. November 2009 verhandelt worden ist. Nach und nach füllt sich der achteckige Raum, Anwälte, Journalisten, Angehörige der Opfer von Sobibor strömen herein, der Arzt, der Demjanjuk medizinisch betreut, nimmt Platz, Fotografen und Kameraleute bauen sich vor der unscheinbaren Seitentür auf, durch die der Angeklagte jeden Moment in einem Rollstuhl gefahren werden wird.
    Es ist fast ein wenig wie bei einem Klassentreffen, man trifft lauter Menschen, die über die Monate zu Bekannten geworden sind, man begrüßt sich, tauscht Neuigkeiten aus, auf Deutsch, Englisch und Holländisch wird angeregt durcheinandergeplaudert. Gespannte Erwartung steht in den Gesichtern, aber auch Erleichterung, dass der quälend lange Prozess, der so viele vertrackte Fragen aufgeworfen hat, nun endlich seinen Schlusspunkt finden soll.
    Für einen Moment schweifen die Gedanken ab: Was, wenn das Gericht John Demjanjuk freisprechen sollte? Was, wenn es die Zweifel für so gravierend hielte, dass es für den Angeklagten entscheiden müsste? Donnernde Stille für einen Moment? Protestrufe, Aufschluchzen der Angehörigen, dramatische Szenen? Gut möglich, aber es ist ein sehr ferner Gedanke. Die meisten Beobachter im Saal rechnen mit einem Schuldspruch. Alles andere wäre nach dem Verlauf der Verhandlungen eine Überraschung, ja eine Sensation.

    John Demjanjuk wird am 12. Mai 2011, dem Tag der Urteilsverkündung, in den Gerichtssaal geschoben.
    Um zwölf Minuten nach zehn erscheint Demjanjuk durch die Seitentür, er sitzt im Rollstuhl, wie an jedem Verhandlungstag, er trägt trotz der Hitze im Saal einen grünen Parka, die blaue Baseballkappe, die er immer trägt, und eine dunkle Brille. Zwei Minuten später betreten auch die drei Richter und zwei Schöffen der Schwurgerichtskammer den Saal, und Ralph Alt, der bedächtige Vorsitzende, ein ruhiger Mann mit grauem Bart, eröffnet die Verhandlung. Eine knappe halbe Stunde geht mit Formalien dahin, dann wendet sich Alt an den
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