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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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PROLOG
    D as Primglöcklein am Stephansdom der Stadt Wien schlug mit hellem Klang eine Viertelstunde an. Ahnungslose Stille hing zwischen den Fachwerkhäusern der nächtlichen Gassen, das Straßenpflaster des Stubenviertels glänzte noch vom spätsommerlichen Regen. Dunkelheit hatte ihre kühlen Finger nach den Häusern ausgestreckt und liebkoste die Gemäuer; jeder unbescholtene Bürger hatte die Türen und Fensterläden längst hinter sich verriegelt, das Feuer im Herd herunterbrennen lassen und die Kerzen zur Nacht verlöscht.
    Als sich in einer Toreinfahrt eine Gestalt bewegte, waren ihre Umrisse kaum wahrnehmbar. Das sachte Schwingen des langen grauen Umhangs hätte einem Beobachter erst bei genauerem Hinschauen offenbart, dass dort jemand stand. Doch um diese mitternächtliche Stunde lag die Bäckerstraße bei der Nova Structura , dem hoch aufragenden neuen Gebäude der Universität Wien, verwaist da.
    Der Mann im langen Umhang blickte sich noch einmal absichernd nach rechts und links um, bevor er sich aus der Toreinfahrt löste. Er kreuzte gemessenen Schrittes die Straße und tauchte in den Schatten des gegenüberliegenden Hauses ab, dessen steinkühle Mauern ihn stumm in Empfang nahmen. Dann schob er die Tür zu dem Gebäude auf und schlüpfte hinein.
    Nur das Mondlicht, das in blassem Farbspiel durch die Glasfenster fiel, erhellte zaghaft das Innere des Gebäudes. Einige atemlose Herzschläge verharrte die Gestalt, lauschend, ob sich irgendwo etwas regte. Dann eilte der Mann die Treppe hinauf, in Richtung Bibliothek. Das Schaben der Stiefel auf dem Steinboden
und das leise Stöhnen der Treppenstufen durchbrachen die Stille in den schummerigen Gängen kaum.
    Bei einer zweiflügeligen holzgeschnitzten Tür hielt er erneut inne. Das Mondlicht fiel durch ein gläsernes Mosaik mit der heiligen Katharina und tauchte den Gang in warme Braun- und Rottöne. Er drückte eine verzierte Klinke hinunter und zog daran, doch die Tür gab nicht nach. Stoff raschelte, Metall schlug an Metall. Einen kurzen Moment verharrte der Mann und lauschte, ob jemand auf das Geräusch aufmerksam geworden war. Als die Stille anhielt, entließ er leise pfeifend den angehaltenen Atem. Er schob erst einen, dann einen zweiten und einen dritten Diebschlüssel in das große Schloss der Bibliothekstür. Schließlich wählte er einen vierten, der passte. Das lange Eiseninstrument glitt in das Schlüsselloch, er bewegte es hin und her, bis es die Schlossfalle fand und sie aus ihrer Verschlusslage drückte. Der Mechanismus knackte laut und sandte ein Echo durch den Treppenflur. Wieder verharrte der Eindringling für einige Augenblicke. Die beiden metallischen Köpfe, die spiegelbildlich auf dem Türschloss angebracht waren, schienen ihn im Mondlicht vorwurfsvoll anzustarren. Als immer noch alles still blieb, schob er die Tür mit quietschenden Angeln leise auf. Er warf einen letzten Blick in den leeren Flur, bevor er in die Kammer glitt.
    An der Wand hing ein großer Bogen Karton, auf dem sich eine Übersicht der Bücher befand. Die Fenster des Raumes waren vergittert, die Tür von innen mit Eisenriemen verstärkt. Die festen Lederrücken wirkten teils frisch gegerbt, teils alt und brüchig. Ihr Äußeres täuschte über ihren Wert hinweg - manche waren an Pulte gekettet, damit man sie nicht entwenden konnte. Die winzigen Fenster in der Bibliothek ließen spärliches Licht hereinfallen, doch es reichte offenbar, um der Gestalt den Weg zu weisen: Ohne sich weiter um Vorsicht zu
bemühen, ging der Mann zielstrebig zu einem Regal hinüber. Der Schall der Schritte auf dem Holzboden wurde von den ledergebundenen Büchern weitgehend gedämpft. Bald griff er sich einen bestimmten Band heraus, trug ihn vorsichtig zu einem der vom Mond erhellten Pulte am Fenster, legte ihn darauf ab und studierte die Signatur. Er nickte zufrieden und schlug es auf.
    Auf den Seiten waren Dreiecke, Kreise, Rechtecke abgebildet; manche durchschnitten von Linien, andere mit kleinen Zahlen versehen. Die behandschuhte Hand blätterte grob durch die Seiten, bis ein gefalteter Bogen herausrutschte. Eilig griff er danach und schlug ihn auf. Zum Vorschein kam eine einfache Karte, die Wien zeigte, mehr einem Gemälde ähnlich denn einem Plan. Der Mauerkranz wirkte wie ein Ei, zwei Flüsse schlängelten sich mit engen Schwüngen über das Papier. Die Ränder waren von oben bis unten angefüllt mit langen Kolumnen aus Zeichen und Kritzeleien. Winzige, aber dennoch detailgetreue
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