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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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breitschultrige Akrobat. »Ich … ich weiß nicht, wie ich ihn anfassen soll …«, stammelte er.
    Madelin sprang auf, rüttelte Scheck, den Spielmann, der neben ihr lag, an der Schulter und lief zu ihnen hinüber. In Franziskus’
Gepäck fand sie den festen Lederriemen, der bereits Bissspuren trug, und eilte damit an die Seite des zuckenden Gefährten. Sie räumte erst hastig sämtliche harten Gegenstände und Steine neben dem Lager aus dem Weg, an denen er sich hätte verletzen können. Dann kniete Madelin neben ihm nieder.
    Franziskus’ Körper bäumte sich auf, Schaum trat ihm vor den Mund und die Zähne knirschten furchterregend. Sein Gesicht wirkte noch immer wie eine hohnlachende Fratze, deren Anblick Madelin Schauer den Rücken hinabsandte. Als ein neuer Krampf seinen Körper durchfuhr, schlug sein Arm unvermittelt aus und traf die überraschte Frau an der Lippe. Ein kurzer Schreckensschrei entfuhr ihr, dann kam der Schmerz.
    Madelin presste die kühlen Finger auf die Wunde. »Miro«, bat sie, »du musst ihn festhalten.«
    Der Akrobat zögerte. »Kann nicht Scheck …?«, fragte er und deutete zu dem Spielmann hinüber, der nur langsam wach wurde.
    »Nein, Scheck kann nicht. Halt ihn an den Schultern fest!« Der breitschultrige Mann hockte sich hinter Franziskus. Er versuchte seinen Kopf zu greifen, zog die Hände jedoch bei jeder Regung des dürren Mannes fort. »Wie der Deibel«, stieß Miro hervor, sprang auf und machte ein paar Schritte zurück. Er war bleich im Gesicht.
    »Scheck!«, rief Madelin. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ den Spielmann schließlich hochfahren. Es dauerte nur ein paar Herzschläge, bis er an ihrer Seite stand.
    »Verdammt. Schon wieder?« Scheck nahm ohne zu zögern den Platz ein, den Miro gerade geräumt hatte, wartete auf einen günstigen Moment und griff beherzt nach den Schultern des Tobenden. Dann drückte er ihn mit ganzer Kraft auf den Boden.

    Jetzt erst wagte Madelin, sich dem Kopf des Freundes zu nähern. Obwohl Franziskus ihr sonst niemals ein Haar krümmen würde, musste sie jetzt achtgeben. In diesem Zustand war er nicht er selbst. Als sich die beiden Zahnreihen zu einem erstickten Schrei öffneten, schob sie ihm mit flinken Fingern den Lederriemen dazwischen.
    »Achtung!«, rief Scheck, als Franziskus sich kräftig in seinem Griff wand. Madelin fuhr zurück, als sich die Zähne über dem Riemen schlossen. Dann ließ Scheck ihn toben. »Geschafft …«
    Wie üblich kam nach der Aufregung die Sorge. Madelin stand auf, wischte sich fahrig die Hände am roten Rock ab und atmete ein paarmal tief durch.
    »Das ist das dritte Mal diese Woche«, sagte der Spielmann und legte ihr den Arm um die Schultern, um sie zu beruhigen.
    »Ja«, sagte Madelin. »Wenn man nur wüsste, was ihn so plagt.«
    »Morgen sind wir in Wien, kleine Taube. Dort gibt es nicht nur hinterwäldlerische Priester, die von Schwefel und Verdammnis daherschwätzen. Dort lehren sie auch Medizin an der Universität! Irgendjemand wird uns sagen können, was mit ihm los ist. Und wie man seine Anfälle heilen kann.«
    »Hab noch nie einen Arzt gesehen, der jemanden gesund gemacht hat«, brummte Miro hinter ihnen. »Schon gar niemanden, der den Deibel im Leibe hat.«
    »Das weißt’ nicht«, murmelte die junge Frau.
    Ihre Gedanken wanderten zum Ziel ihrer Reise. Wien. Madelin hatte ihrer Heimatstadt vor Jahren den Rücken gekehrt. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder in die alten Mauern zurückzukehren. Sechs Jahre lang war sie diesem Eid treu geblieben, und es war ihr nicht schwergefallen. Morgen würde sie ihn brechen und das, obwohl sie allein die Vorstellung hasste, wieder einen Fuß in die Gassen zwischen Stubentor
und Schottenkloster, zwischen Kärntner Turm und Salztor setzen zu müssen.
    Madelin seufzte. Sie mochte sich sträuben, so viel sie wollte, doch sie hatte keine Wahl. Die kleine Gemeinschaft hatte an diesem zweiundzwanzigsten September des Jahres 1529 von Pressburg her etliche beschwerliche Meilen hinter sich gebracht, um die Großstadt an der Donau zu erreichen. Sie hatten sich für diesen Weg um Franziskus’ willen entschieden. Jetzt hing ihrer aller Leben davon ab, dass sie die Mauern Wiens bald erreichten, denn die Osmanen stießen nach Norden vor. An der Seite des gefürchteten Kriegervolkes ritten Tod und Verderben.
    Madelin fühlte Schecks sorgenvollen Blick auf sich ruhen. »Bist du denn sicher, dass du dorthin mitgehen willst?«, fragte er.
    »Wir haben uns alle
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