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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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Ferne groß genug ist, dass man ihm antworten muss.« Sie erkannte, dass ihm dieser Gedanke zu schaffen machte.
    »Ist es denn ein schönes Leben, so ewig auf Reisen?«
    »Das schönste, das es geben kann«, sagte Madelin. »Und gleichzeitig das schlimmste.«
    »Wie kann das sein?«, fragte Wulf. »Bist du denn nicht glücklich damit?«
    »Doch, schon. Ich wollte nicht leben, könnte ich nicht selbst bestimmen, wohin mich meine Füße den nächsten Tag tragen.« Sie lehnte sich zurück und genoss das leichte Gefühl im Kopf, das ein weiterer Schluck des köstlichen Weins hinterließ. »Ich möchte nicht auf dem Acker meinen Rücken zerschinden, weil mir sonst im Winter das Brot fehlt. Ich möchte nicht vom Priester gegängelt werden, was sich ziemt und was nicht. Und ich möchte nicht vor einem Herrn katzbuckeln müssen, weil er mich sonst mit der Rute züchtigt.« Sie warf ihm einen Blick zu. Als er errötete, erkannte sie, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Wulf schwieg einen Augenblick.

    »Und warum ist es das schlimmste?«, fragte er schließlich.
    »Weil einem eben der Herr fehlt, der sagt, was man zu tun und zu lassen hat. Was gut für einen ist und was schlecht. Und weil man manchmal nicht weiß, wie man morgen ein Stück Brot auf seinen Teller legen und einen Schluck Wein in seinen Becher füllen kann.« Madelin blickte aus der Scheune, hinaus auf den Weg, dessen Schlamm bereits halb unter den Strahlen der Sonne getrocknet war. »Auf der Straße ist man ganz allein. Keine Zünfte, die einen schützen, keine Bruderschaften, die für einen beten. Niemand schert sich darum, ob man lebt oder stirbt.«
    »Fast niemand«, ergänzte Franziskus leise.
    »Ja, fast niemand«, bestätigte Madelin und nickte ihm dankbar zu. Der dünne Ikonenmaler hatte sie damals, vor sechs Jahren, als sie völlig verloren vor ihm und seinen Reisegefährten gestanden hatte, unter seine Fittiche genommen und für sie gesorgt, hatte mit ihr Bücher gelesen und ihr beigebracht, wie man auf der Straße überlebte. Und er hatte nicht wissen wollen, warum sie aus ihrem Heim, von ihrer adligen Mutter und dem weichen Bett fortgelaufen war, bis sie bereit gewesen war, ihm selbst davon zu erzählen. Aus demselben Respekt hatte sie nicht gefragt, warum Franziskus aus seinem Kloster hatte fliehen müssen. Solche Dinge erzählte man sich vielleicht später, am Lagerfeuer, wenn man einander vertraute. Und manch einer teilte seinen Grund für das Leben auf der Straße nie jemandem mit; wie etwa der Alchimist und Tinkturenverkäufer Erisbert, der mit jedem über Gott und die Welt schwätzte, nur nicht über sich selbst. Auf die ein oder andere Weise waren sie alle Gestrandete am Meer des Lebens.
    »Manchmal wünsch ich mir wirklich fortzugehen«, sagte Wulf und seufzte voller Selbstmitleid.
    »Dann tu’s doch.« Madelin lächelte ihm aufmunternd zu. Sie
konnte und wollte Wulf die Entscheidung nicht abnehmen. »Wir bringen dich bis Wien. Dort kann man kräftige Männer wie dich bestimmt gebrauchen.«
    »Jetzt gleich?«, fragte Wulf.
    »Jetzt gleich. Wir müssen bald aufbrechen.« Würde er den Mut zum Neuanfang aufbringen?
    Der Blick des Mannes wanderte von ihr zu Franziskus, zu Miro und Scheck, der gerade dabei war, seine Laute einzupacken. Schließlich seufzte er und senkte den Blick. »Nein«, sagte er dann, offenbar von sich selbst enttäuscht. »Ich bin nicht wie ihr. Ich bin für ein Leben auf der Straße nicht gemacht.«
    Madelin zuckte mit den Schultern. Wieder ein Zauderer! Wenn er wüsste, dass das Einzige, das ihn von einem Aufbruch abhielt, seine eigenen Zweifel waren! Doch wenn er nicht bereit war, konnte ihn keine Macht der Welt fortbringen. Sie brachte keine Geduld für Menschen auf, die sich so beuteln ließen. »Wie du meinst. Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück.« Sie sammelte ihre Karten zusammen und erhob sich, um vor die Scheune zu treten.
    Draußen zog Madelin endlich für sich selbst eine Karte aus dem Stoß. Als sie sie umdrehte, fuhr ihr ein Schauer den Rücken hinunter. Es war der Wagen. Zwei geflügelte Schimmel trabten mit stolzem, missgelauntem Ausdruck vor einem goldenen Gefährt, auf dem ein Mann mit Reichsapfel, Zepter und Krone saß. Vielleicht war es eine Spiegelung der morgendlichen Sonne, doch Madelin hatte im ersten Moment den Eindruck gehabt, als stünde der blattgoldene Himmel hinter dem Wagen in hellen Flammen. Verunsichert hob sie den Blick gen Osten. Eine düstere Vorahnung nistete sich in ihrem Magen
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