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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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sie dem Gefallenen eine Hand reichen konnte, hatte die Menge sie schon wieder abgedrängt.
Sie hörte schrille Schmerzensschreie, als die Leute rücksichtslos weitertrampelten.
    »Madelin, unser Karren!« Franziskus zog sie an das Holz ihres Wagens heran. Sie waren so weit abgedrängt worden, dass sie wieder bei ihrem Fuhrwerk angelangt waren.
    »Hinauf mit dir!«, rief sie und schob den Freund hoch, bevor sie sich selbst auf den Bock zog. Dann ergriff sie die Zügel und versuchte durch gutes Zureden, das Pferd zu beruhigen.
    Von oben erkannte Madelin endlich die Ursache der wilden Flucht: Reiter preschten rücksichtslos aus der Vorstadt durch die Menschenmenge. Sie sah, wie der vorderste jetzt im Galopp durch die Menge stob. Bei ihm handelte es sich um einen großen Mann auf einem riesigen dunkelbraunen Pferd. Ihm folgte ein schneidiger junger Mann mit einem Banner an der Seite auf einem schlanken Schimmel. Das Banner zeigte ein Wappen: Löwe und Kreuz geviert mit zwei Adlern. Nach den beiden bahnte sich ein langer Strom an Reitern erst einzeln hintereinander, dann zu zweien und schließlich zu dreien eine Schneise durch die Menge.
    Madelin runzelte die Stirn. Das war doch das Wappen der zu Hardeggs? Sie hatte es oft genug im Haus ihrer Mutter gesehen, um es jetzt auf den ersten Blick wiederzuerkennen. Sie sah der Kavallerie erleichtert dabei zu, wie sie sich formierte, sobald sie aus dem Tor heraus war. Dann beschleunigten die Reiter wieder und hielten direkt auf die Osmanen zu. Die abendliche Sonne tauchte die Rüstungen in den Schein flüssiger Bronze.
    »Die Kürassiere halten uns den Rücken frei«, stieß Franziskus erleichtert aus. »Gott sei’s gedankt.«
    »Gott hat damit vermutlich wenig zu tun«, gab Madelin zurück. Wie sie Johann zu Hardegg kannte, war der Grund für den Ritt eher dessen grenzenlose Arroganz. Doch sie schwieg
und reihte sich mit ihrem Karren in die Menge ein, um das Tor zu passieren.
    »Vielleicht sind Gottes Wege einfach wundersam«, sagte Franziskus und lächelte.
     
    Der Ausfall der Hardegg’schen Reiter verschaffte den Fahrenden tatsächlich ausreichend Zeit, um mit den übrigen Menschen den Schutz der Vorstadt zu erreichen. Eine Viertelstunde später hielten sie an einer bewucherten Mauer, die eine kleine Klosteranlage mit einem Kirchlein dahinter umfing - Sankt Niklas, das Haus der Zisterzienserinnen in Wien. Madelin schlang die Zügel um den Griff auf dem Bock und lehnte sich zurück. Trotz ihrer Erschöpfung ließ ihr die Tatsache keine Ruhe, dass ausgerechnet Johann zu Hardegg, ein Mann, der ihrer Familie so nahestand, ihr hier in Wien als Erstes begegnete.
    »Kommst du für einen Augenblick lang alleine zurecht?«, fragte sie Franziskus und sprang vom Bock.
    »Natürlich, geh nur«, erwiderte dieser. »Ich passe auf die Sachen auf. Aber nimm Scheck mit!«
    »Mach ich, danke. Scheck!« Der Spielmann auf dem Wagen hinter ihr sah zu ihr herüber. »Lass uns die Schlacht beobachten!« Der Angesprochene nickte und stieg vom Wagen.
    Madelin raffte ihre Röcke, sprang in den Straßenschlamm und schloss sich dem Spielmann an. Gemeinsam liefen sie zum Turm. Weit und breit waren keine Wachen zu sehen, und so erklommen sie ungehindert die steinerne Treppe.
    Sie stiegen bis auf die Höhe des Wehrganges. Dort fanden sie eine Schießscharte oberhalb der Stadtmauer, die ihnen einen guten Blick über die Landschaft vor der Stadt gewährte. Die Kürassiere waren noch in der Ferne zu sehen. Madelin schätzte, dass Hardegg sicherlich fünfhundert Mann um sich geschart
hatte. Beleuchtet vom Abendlicht schien die Kürassiere nichts aufhalten zu können, und tatsächlich: Die Osmanen mussten ihre Pferde inzwischen gewendet und Fersengeld gegeben haben, denn die Reiter aus Wien jagten die Feinde wie die Hasen.
    »Gott sei Dank«, stieß Madelin hervor und bekreuzigte sich erleichtert.
    »Die werden schon noch sehen, was es heißt, den Goldenen Apfel pflücken zu wollen«, sagte Scheck grinsend. Sie harrten aus, bis sie die Reiter, die sich im schwindenden Abendlicht entfernten, nicht mehr erkennen konnten.
    »Warum sind sie so weit hinausgeritten?«, fragte Madelin. »Wenn sie uns nur schützen wollten, hätte es doch gereicht, in Sichtweite zu bleiben, oder?«
    »Sie wollten den Ungläubigen bestimmt den Arsch versohlen.«
    Ein Landsknecht kam polternd aus dem Dachgeschoss des Turmes zu ihnen herüber. »Was macht ihr denn hier?«, fragte er verdutzt. Sein wohlgepflegter Bart und die
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