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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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Zeichnungen von Gebäuden mit Türmchen, Erkern und Gauben dienten als Orientierungspunkte, manche mit geschwungener Schrift gekennzeichnet. Ste Stephan stand da. Newer Markt an anderer Stelle. Daneben fanden sich winzige, eng geschriebene Zahlenkolonnen mit weiteren Bezeichnungen. Kerner Tor zu Laslas Turme war an einer Stelle geschrieben. Darauf folgte ein Eintrag von 2394 Fuß. Laslasturme bis hinüber zum Purghtor war ein weiterer Eintrag.
    Das einsame Bellen eines Hundes auf der Straße schreckte die Gestalt aus ihrem Studium der Karte auf. Schnell faltete der Eindringling den Bogen wieder zusammen und ließ ihn unter dem grauen bodenlangen Umhang verschwinden. Er klappte das Buch zu, und kaum hatte er es wieder an seinen Platz zurückgestellt, erklangen im Treppenhaus Schritte.
    Der Mann huschte zur Tür, als sich auch schon der Hall besohlter
Stiefel auf der Treppe näherte. Ein Nachtwächter? Kam er mit oder ohne Hund? Die Klinke einer nahen Tür wurde gedrückt, daran gerüttelt - sie war offenbar verschlossen. Die Gestalt huschte in den toten Winkel hinter der Bibliothekstür, als deren Klinke sich auch schon bewegte. Leise knarrend öffnete sich die Tür einen schmalen Spalt breit und ließ einen Kegel flackernden Lichtes hereinfallen. Jemand schnaufte erstaunt. »Die ist ja offen.«
    Der Spalt vergrößerte sich, dann wurde die Tür zur Bibliothek weit geöffnet. Der Fremde im grauen Umhang dahinter erstarrte, als er einen bärtigen Mann eintreten sah. Der große Raum wurde von seiner angehobenen Laterne nur unzureichend erhellt. Ein Hund war nicht dabei, zweifellos hätte er den Verborgenen sofort im Dunkeln entdeckt. »Verdammte Studenten«, murmelte der Bärtige und schnüffelte, als ginge er einem merkwürdigen Geruch nach. Dann machte er ein paar weitere Schritte in den Raum hinein und leuchtete eine Nische zwischen zwei Regalen aus, verharrte einen Moment und lauschte. Die Gestalt hinter der Tür hielt die Luft an.
    Der Nachtwächter neigte den Kopf, als könne er die Schatten der Bibliothek flüstern hören. Dann nickte er. »Kein Verlass auf diese Gesellen. Wissen nicht mal, wie man einen Schlüssel bedient!« Er wandte sich um und ging wieder hinaus. Die Tür fiel ins Schloss, dann klapperte der Schlüssel. Die Schritte entfernten sich.
    Der Mann im grauen Umhang löste sich aus der Ecke und trat ans Fenster. Dort stand er lauschend, bis die Nova Structura und die Bäckerstraße wieder still dalagen. Dann öffnete er geschickt die Bibliothekstür mit dem Diebschlüssel, huschte hinaus in den Gang und verschloss sie hinter sich wieder auf dieselbe Weise. Mit schnellen Schritten eilte der Eindringling die Treppe hinunter und verharrte an der Eingangstüre. Als auch
draußen nichts zu hören war, tastete er nach der Karte unter dem Umhang, wie um sicherzustellen, dass sie auch gut verwahrt war. Dann zog er die Tür auf und huschte hinaus auf die Straße. Nur wenige Augenblicke später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
    Endlich kam die Bäckerstraße Wiens in der Nacht des zwölften September 1529 wieder zur Ruhe. Es sollte eine der letzten Nächte dieses Jahres sein, die nicht von Krieg und Unruhen heimgesucht waren.

KAPITEL 1
    R ollender Donner weckte Madelin inmitten der Nacht. Dunkelheit herrschte in der Scheune, die nur ab und an von einem flackernden Blitz erhellt wurde. Am Eingang brannte ein niedriges Feuer.
    Die junge Frau blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und begann ein vertrautes morgendliches Ritual: Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie gestern Abend ihr Haupt zur Ruhe gebettet hatte. Pressburg? Schwechat? Nein, all diese Orte hatte die Reisegruppe bereits in hastiger Fahrt hinter sich gebracht. Jetzt wusste sie es wieder, sie lag in der Scheune eines Weinbauern, eine Tagesreise von Wien entfernt.
    Als Madelin ein gequältes Stöhnen von der anderen Seite der Scheune vernahm, war sie sofort hellwach. Es war wieder so weit: Franziskus, ihr lieber Freund und Weggefährte, rang einmal mehr mit sich selbst. Ein heller Blitz durchzuckte die Finsternis und beleuchtete ein dämonisches Bild: Franziskus’ dürrer Leib bäumte sich in verrenkter, unmenschlicher Pose unter seiner Wolldecke auf, sein Gesicht war zu einem teuflischen Grinsen verzerrt, die Augen lagen im Schatten ihrer Höhlen. Eine neue Welle von Krämpfen durchfuhr den schmalen Mann, und er schlug mit den Armen um sich, als gälte es, einen unsichtbaren Feind zu vertreiben.
    Daneben stand der Glatzkopf Miro, der
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