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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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wirken ließ, und stützte sich auf seinem Lager ab, als sei er gerade von der Folterbank gestiegen. Einmal hatte Franziskus ihnen beschrieben, dass ihm nach einem Anfall tatsächlich
sämtliche Gliedmaßen im Körper schmerzten, als hätte jemand überall, ohne eine Stelle auszulassen, Tausende kleiner Nadeln hineingestochen. Um seinetwillen war sie froh, dass sie Wien bald erreichen würden.
    Morgen würde Madelin also heimkehren. Ihr Magen krampfte sich unweigerlich zusammen. Sie musste an die Halbschwester und die Mutter denken, die sie dort mit gutem Grund zurückgelassen hatte. Sie hatte keiner von beiden je wieder unter die Augen treten wollen. Doch zumindest mit ihrer Schwester Anna würde sie sprechen müssen; sie selbst besaß kein Geld, um einen studierten Mann für Franziskus’ Untersuchung zu bezahlen. Anna, die genauso ein Bastardkind wie Madelin war, nur von einem anderen Vater, hatte den wohlhabenden Goldschmied Friedrich Ebenrieder geheiratet. Madelin hoffte insgeheim, ihre Schwester würde ihr einen kleinen Teil ihres Reichtums abgeben oder zumindest leihen, auch wenn sie als Fahrende nicht wusste, wie sie das Geld jemals zurückzahlen sollte. Ein kleines Teufelchen in ihrem Kopf fragte sie, warum sie Geld zurückzahlen sollte, das ihr sowieso zugestanden hätte. Doch Madelin verbot ihm den Mund und setzte sich zu Franziskus auf die Decke.
    »Trink das, Madelin.« Der Freund reichte ihr einen dampfenden Becher aus Steingut. Als die junge Frau daran schnupperte, roch sie den vertrauten Duft von heißem Gewürzwein. Sie griff dankbar danach und genoss die Wärme des Gefäßes an ihren Fingern. Es gab kaum etwas Schlimmeres, als nach dem Schlaf in feuchtkalte Kleider steigen zu müssen, besonders an einem so kühlen Morgen wie diesem. Dabei war doch nicht mal der September vorbei! »Wer ist der edle Spender?«, fragte sie nach dem ersten Schluck.
    »Wulf hat jedem von uns einen Becher gebracht«, erklärte Franziskus. »Wir haben sie aber auch bezahlt.«

    »Bezahlt?« Madelins Stirn furchte sich. »Womit denn? Wir haben doch kaum ein paar Pfennige!«
    »Mit ein paar Liedern von Scheck.«
    »Ach so«, sagte Madelin. »Wie kommt es, dass Scheck denn so früh schon wach ist?«
    »Ihn verlangte es so sehr wie uns nach etwas Warmem.«
    Madelin nahm ein paar weitere Schlucke aus dem Becher und spürte dem Wein nach, dessen Säure angenehm auf ihrer Zunge brannte. Die Erschöpfung in Armen und Beinen und die wunden Füße schienen ihr mit leichtem Kopf gleich etwas erträglicher zu sein. »Kann ich verstehen«, erwiderte sie schließlich. Ein solches Getränk tat ihnen allen gut, und Franziskus brauchte alle Wärme, die er bekommen konnte. Sie musterte ihn. »Wie fühlst du dich?«
    »Gut fühl ich mich, wie immer.«
    Doch Madelin wusste, dass er log. Die Anstrengungen des Wetters und der Reise zehrten sichtlich an ihm. In Wien gab es eine Universität mit sowohl einer theologischen wie einer medizinischen Fakultät. Dort würde es jemanden geben, der herausfinden könnte, ob man dem Freund noch würde helfen können - und wenn ja, wie. Bis dahin musste sie mit der Ungewissheit leben, ob ihr Weggefährte, mit dem sie einen Karren teilte, wirklich einen Dämon in der Seele trug. Sie lächelte ihm tapfer zu.
    Madelin horchte auf, als der Spielmann Scheck eines ihrer Lieblingslieder anstimmte. Sie ging hinüber, wo Wulf, der Knecht, an einem Balken lehnte und dem Lautenspiel lauschte. Die junge Frau hockte sich auf das Stroh am Boden und stellte ihren Becher ab. Dann knotete sie die Kordel auf, die die kleine Ledertasche an ihrem Gürtel zuband, und zog ein Leinentuch heraus, das ihren kostbarsten Besitz enthielt. Der kräftige Knecht des Weinhauers musterte sie misstrauisch. Sie
versuchte, seine Blicke zu ignorieren, die sie an Schecks Worte erinnerten. War sie in Wien wirklich sicher?
    Vorsichtig schlug Madelin das Leinen auf, das einen größeren Stoß Karten vor Staub und Regen schützte. Auf dickes Papier waren Drucke von Bildern mit Symbolen aufgezogen. Obenauf lag die Karte mit dem Narren, der mehr einem Faun denn einem Menschen glich. Sein struppiges blondes Haar war schmutzig und mit Federn geschmückt, die Kleidung sah zerschlissen und abgewetzt aus. Der Mann schritt zufrieden lächelnd dahin, in der Hand trug er einen Wanderstab. Madelin legte diese Karte immer obenauf, denn sie erinnerte sie an die Irrwege des Menschen.
    »Wie schön sie sind!«, sagte Wulf und sah ihr über die Schulter. Seine
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