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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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dafür entschieden, nicht nach Prag und damit weg von den Osmanen zu ziehen«, erwiderte sie. »Wien hat dicke Steinmauern. Dort werden wir in Sicherheit sein.«
    »Trifft das auch auf dich zu?«, fragte Scheck sanft. »Wirst auch du in Sicherheit sein?«
    »Was soll ich denn sonst tun? Vor den Mauern warten, bis die Osmanen kommen? Oder alleine nach Prag weiterziehen?«
    Scheck zuckte mit den Schultern und wies auf ihre dunklen Haarsträhnen. »Ich meine ja nur. Was, wenn den Leuten in Wien auffällt, dass du Ähnlichkeit mit einer Osmanin hast?«
    »Die Leute haben mich schon immer schief angeschaut, weil ich anders aussehe, Scheck«, sagte Madelin. Sie strich sich die dunkle Haarsträhne hinters Ohr und senkte den Blick.
    »Sicher. Aber das war in Friedenszeiten«, sagte der Spielmann. »In Kriegszeiten mögen sie dich für eine Spionin halten. Und was mit Spionen geschieht, ist weithin bekannt.«
    »Sie werden aufgeknüpft«, sagte sie leise. Scheck nickte nur.

    Madelin fühlte einen Knoten im Hals. Doch die Zeit der Entscheidungen war verstrichen. Sie war diejenige, die sich in der Stadt auskannte. Wenn sie herausfinden wollte, welcher Dämon den Freund heimsuchte, dann musste sie den Gang nach Wien riskieren. Osmanen hin oder her.
    »Legen wir uns schlafen«, sagte sie mit fester Stimme. »Wir haben morgen noch eine anstrengende Fahrt vor uns.«
     
    In der Früh saß Madelin vor der Scheune auf einem Baumstamm und flocht sich das lange dunkelbraune Haar. Sie hatte wieder in die feuchten Kleider schlüpfen müssen, die über Nacht nur teilweise getrocknet waren. Heute war der Regen endlich versiegt, der die Straßen des spätsommerlichen Wiener Beckens in Schlammgruben verwandelt hatte. Als die junge Frau die frische Luft durch die Nase einsog, roch es bereits nach Herbst, obwohl die Bäume noch nicht ihr Farbenkleid gewechselt hatten. In Gras und Büschen herrschte rege Betriebsamkeit - offenbar spürten auch die Tiere, dass der Winter früh käme dieses Jahr.
    Wie alle Menschen, die dieser Tage auf der Straße waren, flohen die fünf Gefährten vor den Osmanen nach Westen. Zwar eilte dem Heer sein Ruf schon seit Monaten voraus - Ende Juli sollte Sultan Süleyman der Prächtige mit seiner Armee in Belgrad angekommen sein, hatte man erzählt. Doch damals hatten nur wenige im nördlichen Ungarn dieser Nachricht Glauben geschenkt. Das Heer musste nordwärts gezogen sein und hatte Mitte September Buda erreicht. Die Berichte der wenigen Überlebenden hatten auch die letzten Zweifler bekehrt.
    Die Menschen in Buda - oder Ofen, wie man es in der Fremde nannte - hatten dem feindlichen Heer nichts entgegenzusetzen gehabt. Also hatten sie die Stadt auf das Wort des Sultans Süleyman hin übergeben, dass sämtliche Einwohner verschont
werden sollten. Die Tore hatten kaum offen gestanden, da waren die Osmanen schon wie ein Rudel hungriger Wölfe eingefallen. Die Grausamkeiten an der Stadtbevölkerung, von denen die Flüchtigen berichteten, hatten die Menschen des ganzen Umlandes in Scharen gen Norden und Westen fliehen lassen. Ungarn lag nun vollständig in der Hand der Türken. Und niemand zweifelte daran, dass sie bald vor dem Goldenen Apfel stehen würden - vor Wien.
    Die junge Frau stand auf, rieb sich die kühlen Wangen und trat an den Eingang der Scheune. Von dort ließ sie den Blick über die darin versammelten Gaukler schweifen. Scheck, der lausbübische Lautenspieler, hielt trotz der frühen Stunde sein Instrument auf dem Schoß und ließ die Finger andächtig über die Saiten gleiten. Das offen stehende rote Wams über dem alten Hemd verlieh ihm die Verwegenheit eines Landsknechts, er hatte sein langes hellbraunes Haar zurückgebunden. Miro, Akrobat und Bärenführer, hockte verschlafen im Lederwams und mit einem gefüllten Becher in der Hand am Boden, sein zottiges Tier saß an einen Holzbalken angekettet nass und missmutig neben ihm. Erisbert, der Tinkturenverkäufer, trug ein robenartiges grünes Gewand und tat das, was er am besten konnte: Er schwätzte. Zuhörer war heute ein gewisserWulf, der Knecht des Weinhauers und Bauern, dem die Scheune gehörte.
    Zum Schluss hefteten sich Madelins Blicke besorgt auf das letzte Mitglied der kleinen Gemeinschaft. Franziskus, der dünne Ikonenmaler, schien momentan zu Scherzen aufgelegt, doch sein fröhlicher Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm schlechtging. Er trug ein weites braunes Kaufmannsgewand mit Fellkragen, das seinen Körper noch magerer
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