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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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Neugier hatte offenbar sein Misstrauen besiegt, denn er war zu ihr herübergekommen und hatte sich neben sie gehockt.
    Madelin nickte. Er hatte Recht, die Farbenpracht der Bilder auf den Karten übertraf alles, was ein einfacher Mann wie Wulf in seinem Leben bislang gesehen haben dürfte. Leuchtende Rot- und Blautöne sprachen von der Kostbarkeit der Farben, schienen jedoch neben der hauchdünnen Blattgoldschicht, die auf jeder Karte angebracht war, beinahe zu verblassen. Manche Stellen waren abgerieben vom steten Gebrauch, doch insgesamt war Madelin stolz darauf, wie gut die Karten nach all den Jahren der Wanderschaft noch erhalten waren. Sie reinigte sie vorsichtig mit dem Leinentuch und sorgte immer dafür, dass sie trocken und sauber lagerten. Und sie gab sie niemals aus der Hand.
    Seit sechs Jahren war Madelin auf Reisen und mit den Karten verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt. Natürlich nicht nur damit, sie sang auch und jonglierte mit bis zu fünf Bällen. Aus Händen lesen und Träume deuten konnte sie ebenfalls. Das
Bibelstechen, bei dem man mit dem Daumen wahllos eine Stelle der Heiligen Schrift aufschlug und mit dem Finger blind einen Vers suchte, überließ sie den heiligen Männern. Man musste in ihrem Gewerbe gewissenhaft auf seinen Ruf achten, denn wer in den Ruch geriet, eine Hexe zu sein, lebte nicht lange. Besonders Frauen ereilte dieses Schicksal. Männer, die an Universitäten gelernt hatten, wie man die Sterne oder den Vogelflug deutete, waren als Wissenschaftler hoch angesehen.
    Allerorten gab es Menschen, die Rat und Beistand brauchten. Sollte ein Bauer die Kuh verkaufen, um mehr Saatgut für die Äcker zu erstehen? Sollte ein Handwerker seine Tochter an den reichen Bauern verheiraten oder doch besser an den freundlichen Schmied? Sollte ein Händler nach Santiago de Compostela pilgern, um dort für die Heilung seiner Franzosenkrankheit zu beten? Überall verharrten die Menschen in Leid und Elend, weil sie sich vor der Zukunft fürchteten. Da kamen ihnen die Karten nur recht. Oftmals brauchte es nur einen kleinen Wink des Schicksals, um den Leuten aufzuzeigen, was das Leben für sie bereithalten mochte.
    »Was sind das für Karten?«, fragte Wulf neugierig.
    »Das Spiel heißt Trionfi«, erläuterte sie. »Manche nennen es auch Tarocchi. Es hat achtundsiebzig Karten. Vier Züge mit Zahlen von zwei bis zehn sowie fünf Bildkarten, eine davon ein Ass. Dazu kommen dann noch die Trumpfkarten. Das Spiel ist nach ihnen benannt.«
    »Die Karten müssen sehr wertvoll sein.«
    »Sie sind nur gedruckt, nicht handgemalt, falls du das meinst.« Madelin verschwieg dabei, dass die Farben extra aufgetragen worden waren - Franziskus hatte ihr bereits etliche Karten mit feinem Pinsel ausgebessert. Für neues Blattgold hatte allerdings nie das Geld gereicht. »Aber mir sind sie wertvoll. Sie sind mein liebster Besitz.« Dieses Spiel, das einst ihrer
Mutter gehört hatte, war das Einzige, was sie von zu Hause mitgenommen hatte, als sie mit vierzehn Jahren fortgegangen war. Die Erinnerung zupfte an den Narben einer alten Wunde.
    »Die vier Züge tragen eigene Symbole: Stäbe, Münzen, Kelche und Schwerter. Von jeder Sorte gibt es, wie gesagt, vierzehn, neun mit Zahlen und fünf mit Bildern«, erläuterte sie. »Die zweiundzwanzig Trümpfe aber sind von ganz besonderer Bedeutung. Sie symbolisieren den Körper, die Seele und den Geist, verschiedene Personen, einige Tugenden und Sünden, Sieg und Niederlage - solche Dinge eben. Die Gelehrten sagen, man könne Gottes Willen darin erkennen. Wie oben, so auch unten. Wie im Großen, so auch im Kleinen. Dafür sind die Karten gut.«
    »Warum hast du sie hervorgeholt?«, fragte Wulf. »Ich wollt’ mir eine Karte für den Tag ziehen, sozusagen als Wegweiser«, sagte Madelin. Sie zögerte. »Willst’ dir auch eine ziehen?«, fragte sie dann. Immerhin hatte er ihnen Unterschlupf vor dem Regen und heißen Würzwein geboten.
    »Gerne!«
    Madelin steckte die Karten wahllos ineinander, um sie zu durchmischen, und zupfte immer mal wieder eine heraus und drehte sie auf den Kopf. Dann legte sie sich ihr rotes, mit Gold besticktes Tuch über den Kopf, hielt die Karten kurz in den Händen, setzte sich aufrecht hin und schloss die Augen. Madelin richtete den Blick nach innen und suchte jenen Ort, den sie sonst sorgsam vor sich und aller Welt verbarg. Dann ließ sie sich im Geiste fallen.
    Die Kammer in ihrem Innern war in Dunkelheit und Stille gehüllt. Als sie mit diesen Übungen
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