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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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angefangen hatte, war es ihr so vorgekommen, als befände sie sich in ihrem Kopf oder ihrer Brust. Doch dieser Raum fühlte sich viel größer an, als ihr Körper messen konnte. Wie üblich schritt sie durch die
Schwärze bis zu dem niedrigen Tischlein, das in der Kammer stand, setzte sich davor und hauchte in ihre Hände. Ein helles Flämmchen sprang darin auf, mit der sie die Kerze auf dem Tisch entzündete. Das Licht erstrahlte in der Finsternis.
    Madelin öffnete die Augen. Sie wusste, dass die Kammer in ihrem Geist nicht wirklich existierte. Doch das Entzünden der Kerze darin half ihr dabei, sich zu konzentrieren, um anderen das Schicksal aus den Karten zu lesen.
    Sie bemerkte den erstaunten Blick des Knechts und wusste, dass er nicht mehr nur die zarte junge Frau mit dem vom Sommer aufgehellten dunkelbraunen Haar und den erstaunlich tiefbraunen Augen in einem ovalen Gesicht sah, dessen Teint ein paar Spuren dunkler war als hierzulande üblich. Er sah eine weise Frau, die eine geheimnisvolle Kunst beherrschte.
    »Zieh dir eine Karte heraus, Wulf.« Er tat wie ihm geheißen. »Welche ist es?«
    Wulf drehte sie so, dass Madelin sie sehen konnte. Die Karte zeigte im Mittelpunkt ein großes Wagenrad, in dem ein Engel mit Augenbinde stand und die Hände wie segnend - oder blind tastend - zu den Seiten hin ausstreckte. Zwei Männer waren rechts und links ans Rad gebunden. Drehte es sich, ginge der eine kopfüber hinauf, der andere hinab. Ein bärtiger Mann kniete wie geknechtet unter dem Rad, ein herrschaftlich gekleideter mit Eselsohren thronte darüber.
    »La Rota. Das Rad.«
    »Was bedeutet das?«
    »Schicksal«, sagte Madelin. »Das Auf und Ab des Lebens.«
    Der Knecht sah sich die Karte genauer an. »Keiner von denen sieht sehr glücklich aus.«
    Franziskus war zu ihnen getreten. » O Fortuna «, zitierte er, » velut luna statu variabilis, semper crescis aut decrescis; vita detestabilis !«
    »Was heißt das?«, fragte Wulf.

    »Etwa: Oh Schicksal, veränderlich wie der Mond, du wächst und schwindest, wie es dir gefällt; schmähliches Leben!«, übersetzte Franziskus. »Es besingt die Willkür des Lebens.«
    »Ich hab immer gedacht, wenn man nur hart genug arbeitet, lohnt Gott es einem. Das sagen zumindest die Priester«, erwiderte der Knecht.
    »Die Priester reden viel«, sagte Franziskus. »Ich muss es wissen, ich war selbst mal einer. Aber das Leben … Es geht auf und ab.« Seine Stimme bekam einen melancholischen Unterton. »Das Rad des Schicksals reißt die einen hinunter in die Dunkelheit, und andere hinauf in den Glanz von Herrschaft und Macht. Mal geht es aufwärts, mal abwärts. Immer aber voran.«
    Wulf schwieg einen Augenblick und betrachtete erneut die Karte in seinen Händen. »Das klingt so, als wünschten sich die hohen Herren auch manchmal aus ihrem Leben fort.«
    »Tust du das denn selbst?«, fragte Madelin.
    »Manchmal schon, ja«, bekannte Wulf. »Ich schufte mir den Buckel krumm. Tagein, tagaus, immer dasselbe. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.« Er sah sie an, als verfüge sie über eine Antwort. Madelin kannte diesen Blick. Viele Menschen wollten die Entscheidungen für ihr Leben nicht selbst treffen.
    »Die Osmanen sind im Anmarsch, Wulf. Wo immer wir hinkamen sind die Leute geflohen. Die Vorhut soll nur wenige Tagesreisen hinter uns sein. Deshalb beeilen wir uns so.« Sie machte eine Pause. »Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt zum Weggehen.«
    »Aber das Reich schickt doch Soldaten. Ich habe vor einer Woche Reiter in Kürassen gesehen. Der Bauer sagt, dass die Osmanen nicht bis hierher durchkommen werden. So schnell können sie nicht vorankommen, dass wir uns nicht noch in die Stadtmauern flüchten könnten. Wien ist ja nicht fern.«

    »Wie kann der Bauer das denn wissen?«, fragte Madelin.
    Wulf presste die Lippen aufeinander. Die Osmanen machten jedermann Angst. Jetzt kam es nur darauf an, welche Angst größer war - die vor dem Feind oder jene, ein Leben ohne Heim und Wurzeln verbringen zu müssen. »Der Bauer wird wohl sehr wütend werden, wenn ich weggehe.«
    »Wenn du dich auf Wanderschaft begibst, wirst du dich nicht darum scheren müssen, ob der Weinhauer wütend ist«, erläuterte ihm Madelin geduldig.
    Das überstieg offenbar Wulfs Verstand. »Aber … Was, wenn ich es mir anders überlege? Wenn ich zurückwill?«
    Innerlich seufzte die Wahrsagerin. »Meist gibt es kein Zurück. Man muss eben abwägen, ob man es aushält oder nicht - oder ob der Ruf der
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