Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
Vom Netzwerk:
ein. Dann wurde sie von Rastlosigkeit gepackt.

     
    Am frühen Abend senkte sich die Sonne wie ein glühender Ball dem Horizont zu. Die Pferde, die vor die drei flachen Kastenwagen mit den bunt bemalten Wänden gespannt waren, hatten sich zwei weitere ungemütliche Stunden durch den Schlamm gemüht, um die letzte Meile bis Wien zurückzulegen. Nun hatten sie das Kloster Sankt Marx mit seinen stufigen Giebeln passiert, und die vielen Kirchtürme der Großstadt ragten vor ihnen auf. Die Fahrenden würden zunächst auf die Niklasvorstadt treffen. »Wir werden die Stadt zwischen zwei Schlägen des Primglöckleins erreichen«, sagte Madelin.
    »Was ist das Primglöcklein?«, fragte Franziskus, der neben ihr in seine Decke gewickelt auf dem Bock saß.
    »Eine helle Glocke im Turm von Sankt Stephan. Sie schlägt jeden vierten Teil einer Stunde an.«
    Die junge Frau blinzelte in das Licht der tief stehenden Sonne, die das Land in einen rötlichen Schein tauchte. Wien schmiegte sich wie ein Halbmond in die Biegung der Donau. Der Turm von Sankt Stephan ragte hoch über der Stadt auf. Der Dom hatte nur einen Turm auf der Südseite; der im Norden war immer noch von Lastkränen gekrönt, seiner Vollendung im Bau aber nicht näher gekommen als vor sechs Jahren.
    Eine innere und eine äußere Stadtbefestigung umrissen die Stadt. Die Vorstädte bildeten ein ausuferndes Gebiet; die Innenstadt dagegen kauerte sich, einer Frierenden gleich, eng in ihren steinernen Mantel. Diese innere Ringmauer wirkte dunkel und schattig, ihre Türme waren geschmückt mit gotischer Zier. Dahinter, so erinnerte sich Madelin, standen viele Bauwerke drei Stockwerke hoch und waren zusätzlich mit hohen Helmdächern aus roten Ziegeln gekrönt. Im Gegensatz dazu waren die Häuser der Niklasvorstadt in dem hölzernen Palisadenwall niedriger und meist holz- oder strohgedeckt. Vor den Toren des Niklasturms verstopften bereits Dutzende Flüchtlinge
mit Karren und Wagen die Straße. Offenbar floh das ganze Umland hinter die Mauern der Stadt.
    »Schaut! Dort!«, rief Miro von hinten. »Was raucht da?«
    Madelin wandte sich um. Der Bärenführer, der mit seinem Karren und dem daran festgeketteten Tier den Abschluss des kleinen Zuges bildete, deutete mit der Hand gen Osten zurück. »Das ist in Richtung des Weinhauerhofs, oder?«
    Madelin sah die Rauchsäule, die am Horizont weit in den Himmel stieg. Der Größe nach brannte dort nicht nur ein Haus, sondern ein ganzer Hof oder gar ein Anwesen. Bedrückt dachte Madelin an Wulf, den Knecht. Sie hätte ihn eindringlicher warnen sollen.
    »Da sind Reiter!«, rief nun auch Scheck. Madelins Blick suchte das langgestreckte Wiener Becken ab. Tatsächlich, dort hinten, wo sie noch vor kurzem entlanggezogen waren, näherten sich dunkle Flecken mit beängstigender Geschwindigkeit. So schnell konnten nur Reiter sein.
    »Die Mordbrenner!«, rief Scheck aus. »Warum sind die schon so nah?«
    Madelins Gedanken überschlugen sich. Die Menschen erzählten sich viel über diese schnellen Truppen des Sultans. Sie galten als brutal und grausam; Mütter und Ammen ermahnten ihre ungehorsamen Kinder mit der Drohung, die Mordbrenner kämen und würden sie rauben. Man sagte, sie hinterließen nur verbrannte Erde, plünderten und verbrannten Felder, Bäume, Häuser, Scheunen. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und mit den Knaben und Männern in die Sklaverei verschleppt.
    Diese osmanischen Reiter würden bald Wien erreichen und das Umland in Schutt und Asche legen. Natürlich war Madelin bewusst gewesen, dass Prag zur Flucht geeigneter gewesen wäre als Wien. Es lag nach Norden weg, während ihr Weg nach
Wien sie von Pressburg aus gen Westen geführt hatte. Doch niemand hatte ahnen können, wie schnell die Reiter vorankamen!
    »Schaffen wir es noch, bis sie bei uns sind?«, rief Madelin dem Spielmann zu, der dicht hinter ihr fuhr.
    »Ich weiß es nicht! Beeil dich!«
    Madelin blickte besorgt zu Franziskus. »Halt dich fest!«, rief sie ihm zu und ließ die lange Gerte auf die braune Mähre niedersausen, die in die Holzgabel vor dem Wagen eingespannt war. Das Tier schreckte aus seinem Trott auf und machte einen Satz nach vorne. Dann fiel es widerwillig in einen langsamen Trab.
    Die Dämmerung kündigte sich am westlichen Horizont an; bald würde die Nacht über Wien hereinbrechen. Die kleine Truppe Fahrender zuckelte in eiligem Tempo die von buschigen Silberpappeln gesäumte Straße entlang, deren tiefe Furchen vor Wasser nur so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher