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Hoellennacht

Hoellennacht

Titel: Hoellennacht
Autoren: Stephen Leather
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    Als Jack Nightingale an jenem kalten Novembermorgen aufwachte, hatte er durchaus nicht die Absicht, jemanden zu töten. Er rasierte sich, duschte und zog sich an, machte sich Kaffee und ein Bacon-Sandwich, und keinen Moment spielte er auch nur mit dem Gedanken, einem Menschen das Leben zu nehmen, obgleich er die letzten fünf Jahre dafür trainiert hatte, genau das zu tun. Als aktives Mitglied der bewaffneten CO 19-Eliteeinheit der Londoner Metropolitan Police war er im Notfall mehr als fähig, jemandem eine Kugel in den Kopf oder in die Brust zu jagen, vorausgesetzt er hatte den entsprechenden Befehl eines Vorgesetzten erhalten.
    Sein Handy läutete, als er sich gerade den Kaffee einschenkte. Der Koordinator des Vermittlerteams der Metropolitan Police war dran. » Jack, ich habe gerade einen Anruf vom diensthabenden Beamten in Fulham erhalten. Unten in Chelsea Harbor haben wir eine Person in einer Krisensituation. Kannst du hinfahren?«
    » Kein Problem.« In zwei Fortbildungskursen am Bramshill Officer Training College der Metropolitan Police hatte Nightingale zusammen mit ein paar Dutzend anderen Beamten die Qualifikation erworben, mit Geiselnehmern und potenziellen Selbstmördern zu sprechen, was nun zu seinen regulären Aufgaben hinzukam.
    » Man hat mir gesagt, es geht um jemanden, der von einer Brüstung springen will, mehr weiß ich nicht. Bin noch dabei, jemanden zu finden, der dich unterstützen kann, aber vier von unseren Leuten sind mit einem Familiendrama in Brixton beschäftigt.«
    » Gib mir die Adresse«, sagte Nightingale nur und griff nach einem Stift.
    Sein Bacon-Sandwich aß er während der Fahrt mit seinem MGB -Roadster nach Chelsea Harbour. In den drei Jahren, seit er als Vermittler arbeitete, war er zu mehr als vierzig Suizidversuchen gerufen worden, aber nur dreimal hatte er mit ansehen müssen, wie jemand sich tatsächlich das Leben nahm. Nach seiner Erfahrung wollten die Leute sich entweder umbringen oder reden. Nur selten wollten sie beides. Ein Suizid war eine relativ einfache Sache. Man stieg auf ein hohes Gebäude oder ging auf eine hohe Brücke und sprang hinunter. Oder man schluckte einen Haufen Tabletten. Oder man band sich ein Seil um den Hals und trat von einem Stuhl herunter. Oder man nahm eine Rasierklinge und brachte sich tiefe Schnitte an den Handgelenken oder an der Kehle bei. Wenn man das Glück hatte, eine Pistole zu besitzen, steckte man sie sich in den Mund oder setzte sie sich an die Schläfe und drückte ab. Was man nicht tat, wenn man sich wirklich umbringen wollte, war, zu sagen, dass man es tun würde, und dann auf die Ankunft eines ausgebildeten Polizeivermittlers zu warten. Menschen, die so handelten, suchten normalerweise einfach nur jemanden, der sich ihre Probleme anhörte und ihnen versicherte, dass ihr Leben lebenswert war. Wenn sie sich das, was sie belastete, einmal von der Seele geredet hatten, stiegen sie von der Brüstung herunter oder legten die Pistole weg oder das Messer aus der Hand; dann jubelten alle, klopften Nightingale auf die Schulter und lobten ihn für die gute Arbeit.
    Als er bei der Adresse ankam, die der diensthabende Beamte ihm gegeben hatte, versperrten ihm ein Polizeiwagen und zwei Hilfspolizisten in polizeiähnlichen Uniformen und neongelb leuchtenden Jacken den Weg. Einer zeigte dorthin, woher Nightingale gekommen war, und forderte ihn in einem Tonfall zum Wenden auf, der nahelegte, dass er wohl eher Hilfspolizist geworden war, um Macht auszuüben, und wohl eher nicht, weil er seinen Mitbürgern helfen wollte. Nightingale kurbelte sein Fenster runter und zeigte ihnen seinen Polizeiausweis. » Inspector Nightingale«, sagte er. » Ich bin der Vermittler.«
    » Entschuldigung, Sir«, sagte der Hilfspolizist, plötzlich die Freundlichkeit in Person. Er zeigte auf einen geparkten Krankenwagen. » Sie können Ihren Wagen dort abstellen, ich halte ein Auge darauf.« Er und sein Kollege traten zur Seite, damit der Inspector durchfahren konnte. Nightingale hielt neben dem Krankenwagen, stieg aus, reckte sich und gähnte.
    Hätte man ihn gefragt, was er an diesem kalten Novembermorgen erwartete, hätte er wahrscheinlich achtlos die Schultern gezuckt und gesagt, Menschen, die zu springen drohten, seien meistens Männer, die zu viel getrunken, oder Frauen, die zu viele Antidepressiva geschluckt hätten; oder Drogensüchtige, die zu viel von ihrer Lieblingsdroge intus hätten, in der Regel Kokain oder Amphetamin. Bei der Arbeit war Nightingales
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