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Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte
Autoren: Prevost Andre
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1.
    Sam
     
    Samuel ließ sich brummend wieder ins Bett fallen: keine Lust aufzustehen. Er warf einen schrägen Blick auf seine halb geöffnete Sporttasche, die am Fußende auf ihn wartete. Ein Ärmel seines Judoanzuges hing heraus und schien ihm zuzuraunen: »Los, Beeilung, Sam, du hast heute Wettkampf!« Eben, heute war Wettkampf, das war ja das Problem. Noch dazu nicht irgendein x-beliebiger Wettkampf: »alle Altersstufen von vierzehn- bis sechzehn, sämtliche Gewichtsklassen«. Die wahnwitzige Idee irgendeines Schwachkopfes, der von Sport absolut keine Ahnung hatte. So etwas lief doch immer darauf hinaus, dass man einem Kerl gegenüberstand, der mindestens fünfzehn Zentimeter größer und ungefähr zwanzig Kilo schwerer war. Abgesehen davon hatte Samuel absolut keine Lust, sich in sämtliche Richtungen verrenken zu lassen – von dem dicken Monk zum Beispiel –, um sich am Ende mit dem Kopf unter zwei fetten Pobacken wiederzufinden. Nein, nicht heute. Erstens war heute sein Geburtstag und . . . »Sammy, was machst du da oben?«, schrie eine ungeduldige Stimme aus der unteren Etage. »Du wirst noch deinen Bus verpassen!« »Schon gut, Grandma, ich komm ja schon runter.« Stattdessen vergrub er seinen Kopf jedoch noch tiefer im Kopfkissen. Aus dem Zimmer nebenan drang das überreizte Geheule einer hysterischen Sängerin, die ekstatisch von der Schönheit eines Jungen schwärmte, den sie gerade am Strand getroffen hatte:
    Er ist so schön
    Er ist so süß
    Ein Blick aus seinen Augen und ich zerfließ
    Der Junge vom Straaaand!
    Wie ergreifend.
    Schuld an dem Lärm war seine Cousine Lili, die an einem Samstagmorgen nichts Besseres zu tun hatte, als sich mit ihren Freundinnen zu einer dieser geheimen Mädchenversammlungen zusammenzurotten, bei denen sie sich tonnenweise mit Schmalz berieselten. Zu ihrer Entlastung: Lili war gerade erst zwölf – also eindeutig noch auf einer geistlosen Entwicklungsstufe – und tröstete sich so über die wiederholte Abwesenheit ihrer Mutter in letzter Zeit hinweg. Diese hatte ihre Tochter lange allein großgezogen, aber seit einigen Monaten begleitete sie ihren neuen Verlobten häufig bei seinen Reisen. Lili war ein richtiges kleines Luder, ging ständig auf ihn los – konnte er etwas dafür, dass sie beide bei ihren Großeltern wohnen mussten? -und ließ keine Gelegenheit aus, ihm eins auszuwischen, besonders wenn es um so ein heikles Thema wie Schulnoten ging. Gemessen an dem Schwachsinn, den sie ständig hörte, war ihm vollkommen schleierhaft, wie sie in der Schule von einem Erfolg zum nächsten segeln konnte, jeden Abend mit noch tolleren Noten nach Hause kam und am Ende eines Schuljahres alles abräumte, was es an Auszeichnungen und Preisen gab.
    Und dann nimmt er meine Haaand, Oh, der Junge vom Straaand!
    »Sammy, es ist gleich zehn!«
    Samuel seufzte und versetzte seiner Sporttasche einen kräftigen Tritt. Irgendwie hatten es alle auf ihn abgesehen.
    Er sprang aus dem Bett, versenkte seine Füße in den Sportschuhen, ohne sie zu binden, und öffnete knurrend die Tür. Unglücklicherweise hatten Lili und ihre kleine Bande auch den Flur in Beschlag genommen, und er musste sich durch eine Art Spalier aus hämisch grinsenden Gesichtern und bonbonfarbenen T-Shirts zwängen, die kaum den Bauchnabel bedeckten.
    »Hast du auch an Pflaster gedacht?«, säuselte seine Cousine in falscher Fürsorglichkeit. »Und an die Salbe gegen Blutergüsse? Dass du dir nur nicht wehtust, Schätzchen! Weißt du noch, das letzte Mal?«
    Beim letzten Mal war Samuel nach dreiundvierzig Sekunden unter der fetten Wampe des dicken Monk zermalmt worden. Keine gute Erinnerung. Sein Knöchel hatte sich in einem beunruhigenden Winkel zum restlichen Bein verdreht: ein Monat Skateboard-Verbot.
    »Versuch wenigstens die erste Runde zu überstehen«, fügte sie kichernd hinzu. »Man kann nie wissen . . .«
    »Danke für den Tipp!«, erwiderte er. »Und wenn ich den Jungen vom Strand treffe, gebe ich ihm dein Foto, versprochen. Man kann nie wissen . . .«
    Er stürzte die Treppe hinunter, ohne sich zu den laut glucksenden Mädchen in seinem Rücken umzudrehen. Unten erwartete ihn schon seine Großmutter mit einer Papiertüte, die sie vor seiner Nase schwenkte.
    »Endlich, Sammy, das wurde aber auch Zeit! Du wirst noch den Wettkampf verpassen. Sonst bist du doch kaum zu halten, wenn es um Judo geht! Du wirst mir doch nicht krank?«
    Ungeduldig schüttelte sie ihre blaugrau gefärbten Locken und musterte ihn
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