Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
Vom Netzwerk:
verlassen. Sie atmete tief durch, wie sie es im Unterricht für Körpertechnik gelernt hatte, und stellte sich innerlich auf das ein, worauf sie so eifrig hingearbeitet hatte. Was auch immer Madame mit ihr vorhatte, sie würde ihr entschlossen folgen.
    Als sie sich bereit fühlte, drückte sie die Klingel, die keinen Laut von sich gab. Gleich darauf war das Summen des elektrischen Türöffners zu hören.
    Victoria öffnete vorsichtig. »Danke …«, murmelte sie.
    Eine breite weiße Treppe mit granatfarbenem Läufer nahm den gesamten Eingangsbereich ein. Nirgends ging eine Tür ab. Victoria folgte der vorgegebenen Richtung und stieg, ein wenig aufgeregt und mit klopfendem Herzen, hinauf.
    Nach dem dritten Treppenabsatz erreichte sie einen langen, nach rechts und links abzweigenden Flur. Es gab weder Bilder an den Wänden noch irgendwelche Möbel. Victoria hatte geglaubt, Madame Iv würde sie in einem Haus im viktorianischen Stil voller Antiquitäten und kostbarer Teppiche empfangen, stattdessen herrschte hier eine minimalistische Atmosphäre, die jedoch, wenn sie darüber nachdachte, gut zu ihr passte.
    An den Seiten gingen mehrere Türen ab. Nur die letzte auf der linken Seite stand offen.
    Der granatfarbene Teppichboden dämpfte die Schritte, und jedes Geräusch schien wie in Watte gepackt. Der Lärm der Großstadt war verstummt, als würde sich das Gebäude auf dem Mond befinden. Als Victoria vor der Tür stand, fiel ihr Blick auf ein Fenster, durch das man auf die Grünanlage des Hanover Square sah, dort wo die Vogue ihre Londoner Filiale hatte. Nicht schlecht, direkt dem berühmtesten Modemagazin der Welt gegenüber zu arbeiten.
    Victoria klopfte, bevor sie eintrat.
    Â»Komm rein und mach die Tür zu«, hörte sie Madames energische Stimme.
    Sie folgte dem Befehl, ohne zu begreifen, woher die Stimme kam.
    Sie befand sich in einem großen Büroraum, der zu drei Seiten von breiten, bis zur Decke reichenden Glaswänden begrenzt wurde. Die vierte Wand war von hohen Regalen verdeckt, die mit abgegriffenen alten Wälzern und dicken Bänden über Kunst, Design und Mode vollgestopft waren.
    Am Ende des Raumes stand ein Schreibtisch, der aussah wie ein modernes Kunstobjekt: eine breite Rauchglasscheibe auf einer Konstruktion aus roten und weißen Metallwürfeln. Dazu ein unbequem wirkender Schreibtischstuhl, vermutlich ein Mackintosh, mit extrem hoher Rückenlehne, deren Form an eine Sprossenleiter erinnerte. Außerdem ein schicker, mit weißem Leder bezogener Drehsessel.
    Den einzigen Missklang bildete ein ungerahmtes Gemälde mit ausgefransten Rändern, das auf einer Staffelei stand. Es stellte den abgeschlagenen Kopf einer Frau mit Schlangenhaar dar: Medusa. Victoria erkannte sie, aber das Bild beunruhigte sie, denn es schien überhaupt nicht in diese Umgebung zu passen.
    Madame Iv betrat den Raum durch eine Tür rechts neben dem Schreibtisch, die Victoria bisher nicht bemerkt hatte. Sie telefonierte, gab ihr jedoch zu verstehen näher zu treten.
    Â»Mrs Derzhavin?«, bestätigte sie. »Ja, verbinden Sie mich bitte.« Es folgte eine kurze Pause. »Hallo Catherine. Hast du gute Neuigkeiten?«
    Victoria war stehen geblieben. Madame Iv gab ihr ein Zeichen, sich zu setzen.
    Â»Dann hat es unser italienischer Antiquitätenhändler also geschafft?« Iv wirkte zufrieden. »Das heißt, die Angelegenheit ist abgeschlossen: Der Bühnenprospekt wird innerhalb der vorgesehenen Zeit nach Italien gelangen … Großartig, meine Liebe …«, fuhr sie sichtbar erleichtert fort. Schließlich beendete sie das Gespräch: »Verzeih mir, aber ich muss jetzt wirklich Schluss machen.« Sie legte das Telefon ab und wandte sich Victoria zu.
    Â»Herzlich willkommen«, sagte sie und nahm auf dem Sessel Platz.
    Sie war wie immer äußerst elegant gekleidet: ein hellgraues, maßgeschneidertes, perfekt sitzendes Kostüm, kombiniert mit einer schwarzen Unterjacke und dem niemals fehlenden Medaillon. Auf dem Schreibtisch stand eine Telefonanlage. Bei der großen Schar an Schauspielerinnen, mit denen Iv zusammenarbeitete, war es klar, dass sie immer auf dem Laufenden gehalten werden wollte.
    Â»Danke. Ich bin wirklich neugierig zu erfahren …«, begann Victoria, aber Madame schien ihr gar nicht zuzuhören. Also schwieg sie und beobachtete, wie Iv eine Schublade aufzog, einen Stift
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher