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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
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Schweigen erfüllte die Luft.
    In diesem Augenblick musste Iv an ihre geliebte Meisterin denken, die ihr in hohem Alter das Geheimnis der Essenz offenbart hatte, bevor sie sie in den Rang einer Besten erhob. Iv hörte erneut die zarte Stimme, die ihr die Sage von Ceridwen, der Großen Mutter, erzählte, wie diese, vor dem Untergang der Alten Zeit, dem jungen Gwion Bach den Kessel anvertraut hatte. Gwion hatte ihr nicht gehorcht und drei Tropfen der Essenz gekostet, wodurch er die Gabe der Hellsicht erlangte. Daraufhin begann Ceridwen nach ihm zu suchen, um ihn zu verschlingen: Er war vor ihr geflohen, indem er sich zuerst in einen Hasen, dann in eine Forelle und schließlich in eine Krähe verwandelte. In der Hoffnung, für immer zu entkommen, hatte er schließlich die Gestalt eines Getreidekorns angenommen. Aber Ceridwen verwandelte sich in ein schwarzes Huhn und verschlang ihn, wodurch sie den Barden Taliesin, Glänzende Stirn, gebar.
    Dann hatte ihr die Meisterin das Zubereitungsritual verraten, ihr alles bis in die kleinsten Einzelheiten beschrieben: das Vorgehen bei der Dosierung der Zutaten, wie die schwache Glut des Torfs alle achtundzwanzig Tage, in den Übergangsnächten zwischen den dreizehn Mondmonaten der heiligen Bäume, zu nähren sei, und schließlich die Gerinnung der Essenz am Tag ohne Monat, dem Tag der Mistel: Auf Jahr und Tag, hatte sie erklärt, und endlich hatte Iv die alte Redewendung begriffen. 7
    In den darauffolgenden Tagen hatte die Meisterin sie alles mehrfach wiederholen lassen, um sicherzugehen, dass sie es nicht vergessen würde. Als Iv sie am Ende gefragt hatte, wann es das nächste Mal so weit sein würde, hatte sich ihr Gesicht jedoch verdüstert.
    Unter Tränen hatte sie ihr erklärt, dass es vielleicht nie wieder so weit sein würde: Das Buch der Blätter war in den Wirren des Krieges verloren gegangen … geblieben war nur jene Legende von dem Bühnenprospekt in Sankt Petersburg, die die Flamme der Hoffnung in den Herzen der Schwestern am Leben hielt.
    Als Yana und Florette anfingen, die Abschiedsmelodie anzustimmen, wurde sie aus ihren fernen Erinnerungen gerissen:
    Â»Ich bin der Wind, der übers Meer bläst,
    Ich bin eine Woge aus der Tiefe,
    Ich bin das Donnern des Ozeans,
    Ich bin der Hirsch der sieben Schlachten,
    Ich bin ein Falke auf der Klippe …«
    Sie stimmte in den Gesang mit ein.
    Nach einiger Zeit, die ihr im gleichmäßigen Fluss des Liedes von Amergin wie eine Ewigkeit erschien, setzte sich Florette endlich in Bewegung. Sie löschte die sechs Kerzen mit dem silbernen Löschhütchen, schritt dann singend auf die Tür zu und verschwand wie eine Königin. Iv folgte ihr. Am Ende trat Yana hinaus, noch immer das junge Getreidekorn führend.
    Als alle in den Vorraum zurückgekehrt waren und sie den Eingang verriegelt hatten, verstummte der Gesang: Ein ganzes Jahr lang würden nur ein schwacher rötlicher Schimmer und ein kaum wahrnehmbares Zischen in dieser feuchten, stillen Finsternis überleben, bis zum Tag der Mistel des folgenden Jahres. Das war die Zeit der Zubereitung des ältesten aller Rezepte.
    Yana und Florette tauschten einen innigen Freundschaftskuss. Iv war glücklich zu sehen, dass die vergangenen Unstimmigkeiten aus dem Weg geschafft waren und alles wieder wie zu Beginn war.
    Sie trat neben Victoria, nahm ihr die Kapuze ab und schloss sie in die Arme.
    Â» Was haben wir getan?«, fragte die junge Frau und drückte sich aufgeregt an sie.
    Iv schwieg: Sie ging die tausend Namen der Essenz durch. Die höchste Macht des Mahls, der von den Dichtern seit Anbeginn der Zeiten besungene Liebestrank, das fünfte Element der mittelalterlichen Alchimisten, der edle Liebesgeist der Provenzalen, der Verstand des Rasenden Rolands auf dem Mond … der wie auch immer in den verschiedenen Epochen genannte Trank, mit dem sich jeder Mann, ohne dass er es bemerkte, beherrschen ließ, eine Art zarte Inbesitznahme oder, wie es früher genannt wurde, zarte Besessenheit.
    Sie löste die Umarmung und antwortete Victoria schließlich unter Freudentränen: »Wir sind Frauen. Wir haben gekocht.«

    7 Die englische Redewendung Year and a day bezieht sich auf die Tradition des alten keltischen Mondkalenders, der aus dreizehn Monaten à 28 Tagen besteht. Fügt man einen Tag hinzu, ergibt sich das Sonnenjahr (365 Tage).
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