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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
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schob sie unwirsch zur Seite. »Du hast schon genug Schaden angerichtet, hau ab.«
    Â»Entschuldige, ich habe dich wirklich nicht gesehen …«
    Â»Ja, verdammt noch mal, was soll ich denn noch anziehen, damit man mich sieht? Reichen ein roter Mantel und ein Kupferkessel unterm Arm etwa nicht?«
    Â»Komm schon, ich helf dir …«
    Â»Mach, dass du wegkommst, du Stümperin!«
    Das Wort traf sie härter, als sie gedacht hätte. Auch wenn sie es vielleicht irgendwann einmal gewesen sein mochte, jetzt war sie jedenfalls keine Stümperin mehr. Zwei Jahre zuvor, während der Proben zu Die Trachinierinnen, war sie von Iv Lily höchstpersönlich für die angesehenste Schauspielausbildung des gesamten Vereinigten Königreiches ausgewählt worden. Und nun, nachdem sie sich für ihr Studium völlig verausgabt und es nun auch erfolgreich abgeschlossen hatte, war sie von Madame in ihr Büro bestellt worden, um mit einer Reihe von Privatstunden zu beginnen. »Ich verspreche dir, dass du mehr sein wirst als eine einfache Schauspielerin«, war das Einzige, was sie verraten hatte.
    Â»Worauf wartest du noch? Verpiss dich endlich!«, schrie der verkleidete Weihnachtsmann.
    Victoria lief an ihm vorbei, ließ ihn auf dem Boden hockend, die Hände voller Werbezettel, zurück. Als sie weit genug entfernt war, rief sie: »Hey, Mann … frohe Weihnachten!«, und streckte ihm den Mittelfinger entgegen.
    Â»Leck mich am Arsch«, schnauzte er zurück.
    Victoria fing an zu lachen. Was für ein Start in den Tag, sie wurde von Santa Claus beschimpft und drohte noch, zu spät zur ersten Privatstunde bei Madame zu kommen. Sie musste sich beeilen. Das Büro lag zwar nur zwei Häuserblöcke weit entfernt, aber bis zu ihrem Termin blieben bloß noch drei Minuten.
    Die Regent Street erinnerte in diesem Moment an einen wimmelnden Ameisenbau. Die Leute drängelten, blieben stehen, manche verloren für einen Augenblick die Orientierung, suchten nach der richtigen Richtung. Es schien, als habe jeder einen inneren Kompass, der ihm unbewusst den Weg zum größten Schnäppchen, zum schönsten Geschenk und zum angesagtesten Geschäft wies. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Der Instinkt trügt nicht.
    All das hektische Treiben zog an Victoria vorbei, während sie versuchte, rechtzeitig das Theater von Madame Iv zu erreichen. Während sie lief, schnappte sie immer wieder einzelne Sätze und Wörter der umhereilenden Passanten auf. Eine junge, frisch frisierte Frau mit Smartphone am Ohr und drei grellbunten Päckchen unter dem Arm wartete an der Ampel und stritt mit irgendjemandem am anderen Ende der Leitung. Ein alter Mann, der seinen Regenschirm als Spazierstock benutzte, stand vor einem Schaufenster mit Süßwaren, seine Augen glänzten. Ein Kind zerrte an seiner Mutter wie ein Rottweiler, ließ sich von jeder Schaufensterauslage und jeder neuen Attraktion begeistern. Sie nahm es mit entwaffnender Gelassenheit hin.
    Victoria mochte das alles. Sie mochte die Geräusche, die miteinander verschmolzen und neue Klänge erzeugten: ein vielstimmiges Konzert aus Hupen, raschelnden Tüten, Ampelsignalen und dem Summen der Videokameras, die sich um 360 Grad drehten und alles im Blick hatten.
    Als es Grün wurde, überquerte sie die Straße und bog in die Princes Street ein.
    Noch wenige Meter, dann hatte sie die Glastür erreicht, vor der sie einen Augenblick innehielt, um zu verschnaufen. Der Eingang zu Madame Ivs kleinem Theater sah aus, als würde er zu einem jener zahllosen Geschäfte führen, die die Straße säumten. Keinerlei Hinweistafel, nur ein kleines, nagelneues Klingelschild aus Messing mit der eingravierten, weiß lackierten Abkürzung B.A.S.T.E.T. (Best Actor Society Theatre Entertainment Television) . Wer die genaue Anschrift nicht kannte, hätte nicht geglaubt, dass sich hinter dieser dunklen Glastür die Hoffnungen Dutzender junger Frauen verbargen, die wie sie unzählige Stunden in Madame Ivs Intensivkursen verbracht hatten.
    Doch nach nunmehr zwei Jahren hatte sie mit diesem Ort abgeschlossen.
    Iv hatte ihr genaue Anweisungen gegeben: Komm zum Theater und klingle nebenan.
    Victoria sah sich um. Es gab nur ein einziges Klingelschild, aus dunklem Messing und ohne Aufschrift. Sie spiegelte sich in der Tür. Sie war verschwitzt, aber das war ihr egal, denn sie hatte das Haus vollkommen ungeschminkt
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