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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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Vorwort des Herausgebers
     
    Nur wenige Bücher haben in letzter Zeit eine so heftige Kontroverse hervorgerufen wie »Das Geheimnis von Thurchester«, das vor drei Jahren veröffentlicht wurde. Häufig habe ich in den Häusern von Freunden in der Stadt miterlebt, wie ganze Familien sich über unterschiedlichen Theorien dazu entzweiten und erbittert darüber stritten. Ich wurde regelmäßig nach meiner Meinung gefragt, habe es aber stets abgelehnt, mich dazu zu äußern.
    Obwohl der Fall zur damaligen Zeit als gelöst betrachtet wurde, kreisten weiterhin Gerüchte, und die Anschuldigungen, selbst gegen die angesehensten Persönlichkeiten, die in die Angelegenheit verwickelt gewesen waren, wurden im Laufe der Jahrzehnte immer grotesker. Die Veröffentlichung des vorliegenden Werkes dürfte jedoch all diesen Streitigkeiten ein Ende bereiten, denn der Bericht, der den Hauptteil des Buches ausmacht, das Sie in den Händen halten, ermöglicht eine völlig neue Deutung der Entdeckungen von Miss Napier.
    Die Umstände, durch die der Courtine-Bericht zugänglich gemacht wurde, beschreibe ich in meinem Nachwort, in dem ich auch darstelle, warum ich eine Reise nach Genf unternehmen mußte, bevor das Dokument entsiegelt werden konnte; diese liegt nun bereits acht Monate zurück. Ich unternahm diese Reise zum frühestmöglichen Zeitpunkt, zu dem der Kontinent wieder besucht werden konnte, wenngleich unter großen Schwierigkeiten. Meine Reise war zeitraubend und unbequem; erst zwei Tage nachdem ich das Haus verlassen hatte, erreichte ich mein Ziel.
    Ein Taxi brachte mich vom Bahnhof zu einem großen Haus am See, das von einem mit düsteren Fichten bestandenen Park umgeben war, der um so bedrohlicher wirkte, als der Himmel von einem heraufziehenden Sturm verdunkelt wurde. In meinem eingerosteten Französisch wies ich den Fahrer an zu warten.
    Obwohl mir die Hausangestellte, die mir die Tür öffnete, zu verstehen gab, daß sie meinen Namen kannte, war ich nicht sicher, ob ich empfangen werden würde. Einige Tage zuvor hatte ich von England aus geschrieben, um mitzuteilen, daß ich genau zu dieser Stunde eintreffen würde und hoffe, der Zeitpunkt sei angenehm; aber ich hatte nicht genug Zeit für eine Antwort gelassen. Dennoch war ich optimistisch, denn ich hatte meinen Brief mit Sorgfalt so formuliert, daß er mir Zutritt verschaffen würde.
    Die Hausangestellte führte mich in die Halle, forderte mich auf, mich zu setzen, und verschwand. Das Haus war kalt, und mir ging durch den Kopf, daß Brennmaterial hier wohl ebenso knapp sein mußte wie in England. Es fiel mir ein, daß dies wohl der Grund war, warum etliche Bäume im Park gefällt worden waren. Während ich die trostlose Szenerie betrachtete, verblaßte das Licht am Himmel über der grauen Wasserfläche. Ich wartete vierzig Minuten und hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als die Frau wieder erschien und mich durch eine Tür in ein imposantes Treppenhaus führte. Oben angekommen, dirigierte sie mich in einen riesigen Raum, dessen eine Wand von einem sehr großen Fenster mit zurückgezogenen Vorhängen eingenommen wurde, durch das man den bedrohlichen Himmel und die dunkle Fläche des Sees erkennen konnte. Auf einer Seite des Fensters stand ein schwarzer Flügel mit geschlossenem Deckel. Auf der anderen Seite, so plaziert, daß der größtmögliche Effekt erzielt wurde, saß eine Gestalt in einem hochlehnigen Sessel. Ich bewegte mich wie ein Zuschauer im Theater, der auf seinen Sitz zustrebt, und wie auf ein Stichwort zuckte ein Blitz über den Himmel.
    Die Hausangestellte entzündete eine Lampe neben ihrer Herrin und hob ein Tablett mit schmutzigem Teegeschirr hoch. Die alte Dame bedeutete mir, Platz zu nehmen. Während sie der Bediensteten bei der Arbeit zusah, hatte ich einen kurzen Moment lang Gelegenheit, ihre Züge zu studieren: eine hochrückige Nase und leuchtendblaue Augen in einem intelligenten, mißtrauischen Gesicht. Nachdem die Hausangestellte sich entfernt hatte, begann ich, Konversation zu machen, und sagte, daß es sehr liebenswürdig von ihr sei, mich, einen Fremden, zu empfangen.
    Sie unterbrach mich, als hätte ich nichts gesagt: »Sind wir uns schon einmal begegnet?«
    Für eine Frau Anfang Neunzig war ihre Stimme überraschend fest und erstaunlich tief – wenngleich ich das erwartet hatte. Ihre Frage brachte mich aus dem Konzept. Ich hatte gehofft, sie durch Schmeicheleien dazu zu bringen, das zu sagen, was ich hören wollte, aber nun erkannte ich,
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