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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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spreche nicht nur vom Theater. Ich spreche davon zu leben. Ohne das ist man tot, ohne auch nur mit Anstand begraben worden zu sein.«
    »Sie bereuen nichts?«
    »Nur, daß ich bald sterben werde.«
    Ich konnte nichts damit gewinnen, sie noch einmal nach Perkins zu fragen, der gestorben war, weil er nicht genug Vorstellungskraft besessen hatte, in einem anderen als dem gegenwärtigen Augenblick zu leben. Deshalb wandte ich mich um und verließ den Raum.
    Es stellte sich heraus, daß meine Reise sich doch auch auf konkretere Weise gelohnt hatte. Als die Eisenbahn sich langsam und notgedrungen auf Umwegen in Richtung Küste bewegte, erschienen auf den Bahnhofsschildern die Namen von flämischen Städten und Dörfern, die uns in England in den letzten vier Jahren auf so abscheuliche Weise vertraut geworden waren. Ich mußte an die trauernden Mütter so vieler meiner Schüler denken, für die ich keine Worte des Trostes hatte finden können. Und dann dachte ich an das unwillkürliche Auffahren der alten Frau bei dem Wort »Sohn«; und als ich sie wieder vor mir sah, sah ich auch den schwarzen Flügel mit dem geschlossenen Deckel, und in diesem Augenblick kam mir eine Idee, wie ich vorgehen könnte.
     
    Durch den Tod der alten Dame vor zwei Monaten wurde das letzte Hindernis für die Veröffentlichung des vorliegenden Berichts beseitigt. Ich will nur noch vorausschicken, daß der folgende Kommentar außen auf dem Umschlag geschrieben stand, der das Dokument enthielt – geschrieben als Folge meines Eingreifens, obwohl mir das erst viele Jahre später bewußt wurde:
    Soeben habe ich erfahren, daß ich mich bezüglich der Rolle von Ormonde getäuscht habe, der, wie ich nun weiß, schon viele Jahre vor den hier geschilderten Ereignissen verstorben war. Dennoch werde ich diesen Bericht als treue Wiedergabe dessen, was ich erlebt habe, stehenlassen, ebenso die Schlüsse, die ich später aus dem Erlebten gezogen habe, selbst wenn einige davon falsch gewesen sein müssen. E. C.

Der Courtine-Bericht
     
Dienstag abend
     
    In diesem Bericht möchte ich, solange meine Erinnerungen noch frisch sind, genau beschreiben, was ich vor knapp einer Woche gesehen und gehört habe, als ich nämlich einem Mann begegnete, der, trotz seines Mißgeschicks, auf brutale Weise umgebracht worden zu sein, herumging wie Sie und ich.
    Mein Besuch begann wenig verheißungsvoll. Wegen des Wetters, das schon seit zwei Tagen einen Mantel gefrierenden Nebels über die südliche Hälfte des Landes gebreitet hatte, traf der Zug verspätet ein, und ich verpaßte den Anschluß. Als ich endlich – mit zwei Stunden Verzögerung – an meinem Bestimmungsort ankam, war ich bereits seit mehreren Stunden durch die früh hereingebrochene Nacht gefahren. Ich saß allein in dem schlecht beleuchteten Waggon und hielt ein Buch auf dem Schoß, machte jedoch kaum einen Versuch zu lesen und starrte hinaus in die verschleierte Landschaft, die zunehmend fremdartig und verschwommen wirkte, je mehr die Dunkelheit sich herabsenkte und der Nebel sich verdichtete. Langsam setzte sich in mir die Vorstellung fest, daß der Zug mich nicht vorwärts, sondern rückwärts trug und mich aus meinem eigenen Leben und meiner eigenen Zeit in die Vergangenheit entführte.
    Unversehens wurde ich in die Wirklichkeit zurückgerufen, als der Zug mit einem plötzlichen Ruck seine Fahrt verlangsamte und schließlich, nach einer Reihe von Erschütterungen, in der Dunkelheit, die vom trüben Licht der Waggons kaum durchbrochen wurde, zum Stehen kam. Wir hatten soviel Verspätung, daß ich keine Ahnung hatte, ob dies bereits meine Station war. Als ich in der Tür stand und versuchte, im bräunlich-gelben Licht einer fernen Gaslaterne das Bahnhofsschild zu entziffern, hörte ich, wie weiter vorn am Zug ein Fenster heruntergelassen wurde und ein Mitreisender mit lauter Stimme fragte, ob wir bereits an der Endstation seien. Vom Perron her antwortete eine Stimme, die die Frage verneinte und erklärte, dies sei die letzte Haltestelle vor der Endstation. Dann fiel der Name meines Bestimmungsortes.
    Ich nahm meine Tasche aus dem Gepäcknetz und verließ den Zug, zusammen mit nur drei oder vier weiteren Reisenden, die ich aus den Augen verlor, als ich, wie unter Schock durch die Kälte, kurz auf dem Bahnsteig stehenblieb, mit den Füßen aufstampfte und die Arme um mich schlug. Ich versuchte, die übelriechende Luft nicht einzuatmen, in der sich der beißende Geruch von scharfem Frost mit dem Rauch der
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