Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
Vom Netzwerk:
Glocke, das mich fast betäubte. Sie schlug noch viermal – jeder Glockenschlag schien den vorangegangenen zu überrollen wie kleine Wellen, die sich durch den Nebel nach außen verbreiten –, und ich stellte fest, daß ich mich unmittelbar am Fuße der Kathedrale befand, der wir uns in der fast vollständigen Finsternis genähert hatten, ohne daß ich es bemerkt hatte.
    Die Droschke nahm eine letzte scharfe Kurve und hielt an. Ein paar Meter entfernt erkannte ich ein Portal, den Südeingang des Querschiffs. Im flackernden Licht einer Gaslaterne sah ich einen Stoß Ziegelsteine und ein paar Holzbalken liegen, die mit einem geteerten Tuch abgedeckt waren.
    »Wird am Dom gerade gearbeitet?« fragte ich den Kutscher beim Aussteigen.
    »Tun sie das denn nicht immer?« fragte er zurück.
    Während ich den Fahrpreis entrichtete, öffnete sich die Tür des nächstgelegenen Hauses, und eine Gestalt kam auf mich zugeeilt. »Alter Freund, wie ich mich freue, dich zu sehen!« rief eine jugendliche Stimme, die mir so vertraut war, daß ich erbebte. Die Stimme war noch die alte, aber was ich vor mir sah, war ein Fremder, ein Mann mittleren Alters mit faltigen Wangen, hoher Stirn und dünnem, ergrautem Haar, das sich bereits zu lichten begann. Austin umarmte mich und drückte mich an sich. Ich fühlte, wie mager er war, und mir fiel wieder ein, daß ich ihn um seine unenglische Impulsivität und seine Art, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, immer beneidet, mich aber auch ein wenig davor gefürchtet hatte.
    »Vielen Dank, daß du gekommen bist«, sagte er und klopfte mir auf den Rücken. »Gott segne dich. Gott segne dich.«
    Bei seinen Worten empfand ich ein tiefes Bedauern für das, was geschehen war. Als wir noch miteinander befreundet gewesen waren, hatten wir nicht vorhersehen können, daß wir so lange voneinander getrennt sein würden – getrennt durch eine Entfremdung, zu der es gekommen war, weil er in die schmerzlichsten Ereignisse meines Lebens verwickelt wurde. Ich hatte ihm damals geschrieben, um ihm zu zeigen, daß ich mir wünschte, unsere Freundschaft möge andauern. Erst als die Antwort ausblieb, hatte ich mich zu fragen begonnen, ob er sich wegen seines Beitrags zu den Ereignissen womöglich schuldig fühlte, und mir mehr und mehr Gedanken darüber gemacht, in was für eine Rolle er gedrängt worden war beziehungsweise was er von sich aus getan hatte. Dennoch hatte ich ihm zum ersten Weihnachtsfest nach diesen Vorkommnissen und auch zu allen folgenden stets einen kurzen Gruß geschickt; und einige Jahre später hatte er begonnen, das gleiche zu tun – noch knapper als ich –, und er hatte auch weiterhin alle zwei oder drei Jahre geschrieben.
    Gelegentlich hörte ich über gemeinsame Bekannte von ihm, wenn auch zunehmend seltener, weil sie ebenfalls die Verbindung abbrachen oder ins Ausland gingen oder starben. Und dann, vor einem Monat, nachdem ich angenommen hatte, daß die Glut unserer Freundschaft längst zu Asche geworden sei, hatte ich einen Brief erhalten: Er lud mich ein, ihn zu besuchen, ja er drängte mich sogar mit den wärmsten Worten, zu kommen, und zwar zu jedem beliebigen Zeitpunkt, da er niemals verreise, vorausgesetzt, daß ich die Geduld besäße, »die Gesellschaft dieses uninteressanten, schrulligen alten Mannes zu ertragen, der ich geworden bin«. Zuerst hatte ich mich gefragt, ob die alte Glut wieder aufflammen oder ganz erlöschen würde, wenn man jetzt hineinblies. Aber ich hegte eine Vermutung, warum er den Entschluß gefaßt haben könnte, mich einzuladen, und so hatte ich zurückgeschrieben, daß ich mit Freuden käme und daß ein glücklicher Zufall es wollte, daß ich sowieso gerade vorhätte, die alten Erdwälle von Woodbury Castle gleich vor der Stadt zu untersuchen und zu vermessen. Ich hatte angekündigt, daß ich zu Beginn des neuen Jahres auf dem Rückweg von meiner Nichte bei ihm vorbeischauen und ihm so früh wie möglich Bescheid geben würde. (Tatsächlich hatte ich meine Pläne geändert und ihm erst wenige Tage vorher eine Nachricht zukommen lassen.)
    Hinter mir hörte ich, wie die Droschke in der engen Straße zwischen den Häusern und dem Dom wendete.
    Austin trat zurück, hielt mich aber immer noch an den Armen fest, so daß ich ihn endlich genauer betrachten konnte, wenn auch nur im schwachen Licht einer etwa fünfzehn Meter entfernten Gaslaterne. Es war tatsächlich der alte Austin, der mich da anlächelte. Das gleiche Leuchten in den großen dunklen Augen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher