Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
Vom Netzwerk:
hatte.
    »Was ist das? Was soll das heißen?« Sie ließ den Inhalt des Päckchens verächtlich auf ein kleines Tischchen neben ihrem Stuhl fallen.
    »Es sind die Schlüssel zu einem Geheimnis.« Diese Antwort konnte ich mir nicht verkneifen. »Möchten Sie sie nicht an sich nehmen?«
    »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
    »Erkennen Sie sie denn nicht?«
    »Wie sollte ich?«
    »Es sind die Schlüssel zu einem Haus in Thurchester, einem Haus, das Sie sehr gut kennen.« Sie sah mich mit einem Anflug von Neugier an, doch das war auch alles, was sie an Gemütsbewegung zeigte. Ich versuchte, sie aus der Reserve zu locken: »Ich habe sie in Sicherheit gebracht, als sie beinah für immer verlorengegangen wären.« Als sie immer noch schwieg, fügte ich hinzu: »An jenem Tag – ich meine an dem Tag, der Ihr Leben ebenso dramatisch veränderte, wie er das meine berührte – folgte ich Ihnen von der Hintertür des Hauses aus. Sie haben mich nicht bemerkt, und wenn doch, dann hielten Sie mich für ungefährlich.«
    Sie zeigte keine Reaktion. Etwa eine Minute lang saßen wir schweigend da. Dann zog sie an einer Klingel neben ihrem Stuhl. Fast augenblicklich trat die Hausbedienstete ein; sie mußte vor der Tür gewartet haben. Die alte Dame sagte in gutem Französisch: »Der Herr möchte gehen. Würden Sie ihn bitte hinausbegleiten?«
    »Versteht Ihre Hausangestellte Englisch?« fragte ich. Sie antwortete nicht und starrte nur aus dem Fenster. »Ich muß Ihren Sohn unbedingt finden. Welchen Namen benutzt er?«
    Jetzt endlich wandte sie sich um und sah mich mit einem Ausdruck so nackter, ungeschminkter Feindschaft an, daß mir klar wurde, daß sie mir meine Fragen niemals beantworten würde. Ich stand auf.
    »Ihre Reise war zwecklos«, sagte die alte Dame. »Aber das können Sie mir nicht zum Vorwurf machen.«
    »Sie war keineswegs ohne Erfolg. Mehr als alles andere habe ich nach Aufklärung gesucht.«
    Sie ließ sich nicht anmerken, ob meine Bemerkung sie irgendwie interessierte.
    Ich fuhr fort: »Die Begegnung mit Ihnen hat mich in die Lage versetzt, manches zu verstehen, das mir mehr als vier Jahrzehnte lang absolut rätselhaft schien.«
    Ich ging zur Tür und hatte sie fast erreicht, als sie plötzlich ausrief: »Mr. Barthram, Sie haben Ihre Schlüssel vergessen!«
    Ich drehte mich um und ging wieder auf sie zu. »Ich habe sie nicht vergessen; ich kann Ihnen versichern, daß ich sie an keinem einzigen Tag meines Lebens je vergessen habe. Sie gehören Ihnen, und es ist mir eine unbeschreibliche Erleichterung, sie hier bei Ihnen zu lassen.« Ich blieb etwa zehn Schritte von ihr entfernt stehen. »Erinnern Sie sich an den Namen Perkins?« Sie zeigte sich unbeeindruckt.
    Es war mir nicht klar gewesen, wie drohend ich gewirkt haben muß, bis die Hausangestellte mit Entsetzen in der Stimme fragte: »Soll ich Pierre holen, Madame?«
    Die alte Dame bedeutete ihr ungeduldig, still zu sein, ohne mich aus den Augen zu lassen.
    »Denken Sie gelegentlich an einen jungen Mann namens Eddy Perkins?« wiederholte ich meine Frage.
    Zu meiner Überraschung lächelte sie. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie das tun. Warum kommen Sie erst jetzt?« Sie nickte in Richtung auf den kleinen Tisch. »Wenn Sie rechtzeitig Gebrauch davon gemacht hätten, hätte selbst der Dümmste die ganze Angelegenheit durchschauen müssen. Waren Sie zu ängstlich?«
    »Ich war noch ein Kind«, antwortete ich.
    »Als ich ein Kind war, habe ich mich vor nichts gefürchtet. Oder vielleicht wäre es ehrlicher zu sagen, daß meine Angst mich nie daran gehindert hat zu tun, was ich mir vorgenommen hatte. Das ist der Unterschied zwischen Menschen, die durch ihr ganzes Leben gehen und immer nur ihren Text wiedergeben, und solchen, die ihre Rolle selbst erfinden, während sie sie spielen.«
    »Das gelang Ihnen sehr gut.«
    »Ich war großartig.«
    »Geben Sie das zu?«
    »Zugeben? Lieber Mann, ich prahle damit. Die größten Schauspieler können ein menschliches Wesen vor den Augen der Zuschauer erschaffen, anstatt ihnen wie eine Puppe etwas Vorgefertigtes zu zeigen. Auf die Bühne zu gehen und in einem dramatischen Augenblick die Person zu werden, die man darstellt, zu sprechen, ohne zu wissen, was man sagen wird, bis zu dem Moment, in dem man die Worte ausspricht! Die Gefahr herauszufordern und zu triumphieren, das ist das große Abenteuer, das das Leben uns bietet. Das unvergleichliche Abenteuer. Verstehen Sie das nicht?«
    »Ich war nie Schauspieler.«
    »Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher