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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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daß ich es mit einer anderen Strategie versuchen mußte.
    »Nein, nicht im eigentlichen Sinn. Aber ich habe Sie vor vielen Jahren einmal gesehen.«
    »Unter welchen Umständen?«
    »Es war in Thurchester.«
    Sie sah mich forschend an, doch ich konnte kein Anzeichen von Unbehagen erkennen. »Sie irren sich. Das ist vollkommen unmöglich.«
    »Ich habe Sie an dem Tag gesehen, an dem Sie die Vorstellung Ihres Lebens gaben.«
    Sie lächelte dünn. »Ich kenne das armselige kleine Theater in der High Street. Früher einmal habe ich es sogar sehr gut gekannt. Aber ich bin dort niemals selbst aufgetreten.«
    »Ich habe auch nicht gesagt, daß ich Sie auf der Bühne gesehen hätte.«
    Sie musterte mich prüfend. »Sie können frühestens zwanzig Jahre, nachdem ich die Bühne aufgegeben hatte, geboren sein.«
    »Die Bühne, ja.« Als ich ihr überraschtes Gesicht sah, fügte ich noch hinzu: »Wenn ich Ihnen gebe, was ich Ihnen mitgebracht habe, werden Sie verstehen, was ich meine.«
    Mein Herz klopfte heftig, als ich diese Worte aussprach. Ich wünschte mir den Beweis so sehr. Wenn sie doch nur etwas sagte, das mich davon überzeugen würde, daß sie die Frau war, nach der ich gesucht hatte. Ich meine nicht einen gesetzlichen Beweis, denn den hatte ich ja bereits. Es war mir gelungen, über die Jahrzehnte hinweg eine Folge von Besitzübertragungen und den Wechsel von Wohnsitzen von Land zu Land zu verfolgen, so daß die dahingehenden Erfordernisse bereits erfüllt waren. Aber das hatte mein Bedürfnis nicht befriedigt zu erfahren, daß sie es wirklich war. Ich mußte von ihren eigenen Lippen irgend etwas hören, das die Frau, die hier vor mir saß, mit der Gestalt in Verbindung brachte, auf die ich zwar nur einen kurzen Blick hatte werfen können, die mich aber dennoch in meinen Erinnerungen verfolgt hatte.
    Es war offensichtlich, daß ihr meine Bemerkung nicht gefiel, und sie sagte, offenbar in der Absicht, unser Gespräch zu einem raschen Abschluß zu bringen: »In Ihrem Brief haben Sie angekündigt, daß Sie etwas in Ihrem Besitz haben, das mir gehört.«
    »Und was ich persönlich in die Hände des rechtmäßigen Besitzers legen möchte, um ein altes Unrecht wiedergutzumachen.«
    Sie nickte. »Das waren Ihre Worte. Worum handelt es sich? Erwarten Sie eine Bezahlung dafür?«
    »Nicht mit Geld. Und ich habe auch nicht die Absicht, zu handeln. Es ist Ihr Eigentum.« Mir wurde klar, daß ich damit den wichtigsten Punkt meiner Reise überstürzt und früher erreicht hatte, als es eigentlich sinnvoll war. Ich zögerte einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Ihr Eigentum und das Ihres Sohnes.«
    Sie fuhr unwillkürlich auf. Zum ersten Mal sah sie mich mit unverhohlener Neugier an und, wie mir schien, auch mit Zorn. Doch schon einen Augenblick später trug sie wieder ihre spröde Maske zur Schau.
    Ich fuhr so sachlich wie möglich fort: »Ich habe versucht, ihn zu finden, weil ich es vorgezogen hätte, Sie nicht mit dieser Angelegenheit zu behelligen. Ich habe große Anstrengungen unternommen, Verbindung zu ihm aufzunehmen, doch sind meine Bemühungen ohne Erfolg geblieben. Wenn Sie mir sagen, wie ich ihn erreichen kann, will ich Sie nicht länger belästigen und die Angelegenheit mit Ihrem Erben erledigen.«
    »Mit meinem Erben?« Der Ton, in dem sie diese Worte aussprach, kam mir spöttisch vor.
    »Ich nehme doch an, daß Ihr Sohn Ihr Erbe ist?«
    »Für Ihre Vermutungen bin ich nicht verantwortlich.«
    »Ob er nun Ihr Erbe ist oder nicht, diese Angelegenheit betrifft ihn ebenso wie Sie.« Als sie keine Antwort gab, stellte ich die brutale Frage: »Würden Sie mir sagen, ob er noch am Leben ist?«
    Sie zeigte keine erkennbare Reaktion. Nach einer kurzen Pause erwiderte sie: »Seien Sie so freundlich und geben mir das, was Sie für mein Eigentum halten.«
    Ich erhob mich von meinem Stuhl, zog ziemlich theatralisch einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn ihr.
    Sie griff danach und riß ihn auf. Man meint im allgemeinen, daß sehr alte Menschen in ein Stadium gelangen, in dem sie sich schrittweise von der Welt der Eigensucht, der Emotionen und der Gier entfernen. In ihrem Fall konnte ich jedoch kein Anzeichen erkennen, daß sie dabei war, sich aus dem Leben zurückzuziehen. Im Gegenteil, als ich ihr zusah, wie sie begierig den Briefumschlag aufriß, hatte ich das Gefühl, daß ich mein Ziel zumindest zum Teil erreicht hatte: Ich verstand nun so manches über Motive und Skrupel, das ich vorher nicht voll erfaßt
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