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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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tausend Kohlefeuer der Stadt mischte.
    Austin hatte mir mitgeteilt, daß er mich nicht vom Bahnhof würde abholen können, weil Verpflichtungen ihn daran hinderten, und daß ich aus diesem Grund direkt zu ihm nach Hause kommen sollte. Diese Regelung war mir angenehm, weil mir eingefallen war, daß ich ihn womöglich nicht erkennen würde und es daher günstiger wäre, ihm erst an seiner eigenen Haustür zu begegnen. Ich wußte nicht so recht, was mich mehr beunruhigte: die Aussicht, festzustellen, daß er sich verändert hatte oder daß er ganz der alte war. Ich glaube allerdings, daß ich mich weniger vor den Veränderungen fürchtete, die ich an ihm entdecken könnte, als davor, am Gesicht meines alten Freundes abzulesen, wie sehr der Zahn der Zeit an mir selbst genagt hatte.
    Der Zug pfiff und dampfte aus dem Bahnhof, und ich stand keuchend in dem rußigen Rauch, den er hervorgestoßen hatte – einem dunklen, mineralischen Geruch wie aus dem Inneren der Erde. Es wurde stockdunkel, und das einzige, was man noch erkennen konnte, war eine flackernde Gaslaterne an der Stelle, wo der Ausgang des Bahnsteigs sein mußte. Dorthin lenkte ich nun meine Schritte. An der Sperre nahm ein Schaffner, der sich einen Schal vors Gesicht gebunden hatte, mit seiner behandschuhten Hand meine Fahrkarte entgegen.
    Als ich auf den Vorplatz hinaustrat, stellte ich fest, daß meine Mitreisenden spurlos wie Phantome verschwunden waren. Nur eine Droschke stand wartend da, die ich nun mietete. Der Kutscher wandte mir das Gesicht zu. Seine Knollennase und hängende Unterlippe wirkten zusammen mit seinem nach saurem Bier stinkenden Atem wenig vertrauenerweckend. Ich nannte die Adresse, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.
    Obwohl ich die Stadt nicht kannte, wußte ich, daß der Bahnhof etwa eine Meile vom Stadtzentrum entfernt lag. Durch das kleine Fenster des schaukelnden Gefährts konnte ich fast nichts erkennen, aber ich hörte, daß nur wenige andere Fahrzeuge auf der Straße waren. Nach drei oder vier Minuten begannen wir, einen leichten Hang hinaufzufahren, und ich vermutete, daß es sich um den Hügel handelte, auf dessen Gipfel die Römer einst ihre Festung erbaut hatten, um die Straßenkreuzung zu bewachen.
    Auf beiden Seiten der Straße zogen sich einfache Häuser entlang, in deren erleuchteten Fenstern ich Familien beim Abendessen sitzen sah. Obwohl der Empfang, der mir bereitet wurde, bisher ziemlich kühl war, sagte ich mir, daß ich die Woche wenigstens nicht im College mit all den trübsinnigen unverheirateten Kollegen verbringen müßte, die niemand irgendwohin eingeladen hatte.
    Der Hügel wurde steiler, und die Droschke verlangsamte ihre Fahrt. Überrascht stellte ich fest, daß mein Herz schneller zu schlagen begann. Ich hatte mich oft gefragt, was mein alter Freund wohl aus seinem Leben gemacht hatte. Als Studenten hatten wir häufig darüber geredet, wieviel wir in der großen Welt einmal bewegen würden – wir studierten beide mit Leidenschaft und sehnten uns nach Anerkennung. Ob er enttäuscht war, wie sein Leben verlaufen war? Fühlte er sich glücklich in dieser abgelegenen kleinen Stadt? Hatte er andere Dinge gefunden, die ihn befriedigten? Gelegentlich kamen mir von unseren gemeinsamen Bekannten Gerüchte über ihn zu Ohren, die ich jedoch nicht für besonders glaubwürdig hielt. Ich hatte oft über ihn nachgedacht, und als ich seine Einladung erhielt – wirklich überraschend nach einer so langen Zeit der Entfremdung –, hatte ich einfach nicht widerstehen können.
    Die Kutsche erreichte den Gipfel des Hügels, die Räder begannen über das Kopfsteinpflaster zu rumpeln, und wir fuhren wieder schneller. Es gab nun einige Straßenlaternen, deren gedämpfter Schein ein spärliches Licht durch den dichten Nebel warf, und obwohl wir uns offenbar in der High Street befanden, fiel mir auf, daß nur wenige Fahrzeuge auf der Fahrbahn und kaum Fußgänger auf den Bürgersteigen waren. Der Hufschlag des Droschkenpferdes schallte laut durch die stille Straße, und ich hatte das Gefühl, durch eine nach einer Belagerung geplünderte und verlassene Stadt zu fahren. Dann wurde ich plötzlich ohne Vorwarnung von einer Seite zur anderen geworfen, als die Droschke mehrere scharfe Kurven nahm, um dann durch einen großen Torbogen zu rollen. Der Hufschlag hallte um mich herum. Ich dachte schon, der Kutscher habe mich irrtümlich zu einem Gasthaus gebracht, doch in diesem Augenblick hörte ich das schwere Schlagen einer großen
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