Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
Vom Netzwerk:
der gleiche jungenhafte Eifer. Er lächelte, und doch schien mir – bei aller offensichtlichen Freude, mich zu sehen –, daß sein Blick mir auswich, daß ein Schatten in seinen Augen lag, die den meinen niemals wirklich begegneten. Dachte er das gleiche wie ich? Was haben die Jahre dir angetan? Was haben sie dir geschenkt als Ersatz für die strahlende Jugendlichkeit, die sie dir genommen haben?
    »Lieber Austin, gut siehst du aus.«
    »Um so mehr, weil du da bist«, sagte er. »Komm herein, alter Freund.«
    Er griff nach meiner Tasche und schwankte theatralisch unter ihrem Gewicht. Ich versuchte, sie ihm wieder abzunehmen, aber er zog sie zu rasch weg, und einen Augenblick lang waren wir wieder zwei vergnügte Studenten. »Was in aller Welt hast du denn da drin? Bücher, nehme ich an?«
    »Und Weihnachtsgeschenke für die Kinder meiner Nichte. Aber eines davon ist auch für dich.«
    »Oh, fein! Ich bekomme ja so gern Geschenke!« rief er aus. Er trug die Tasche vor mir her zur Tür, wo er mich mit einer Geste aufforderte, vor ihm einzutreten.
    Ich sah an dem Gebäude hinauf. »Was für ein hübsches, altes Haus«, sagte ich. Aber noch während ich diese Worte aussprach, stellte ich fest, daß das Haus eigentlich eher seltsam als hübsch zu nennen war. Es war hoch und schmal und zwischen zwei größeren Anwesen eingeklemmt; seine Fenster und Türen waren so unübersehbar schief, daß es wirkte wie ein Betrunkener, der von seinen Begleitern unter den Achseln aufrecht gehalten wird.
    »Es gehört mit zu meinem Amt. Es gilt als Privileg, hier zu wohnen, aber ich denke mir oft, daß ich eigentlich dafür bezahlt werden sollte. Die besten Häuser finden sich am unteren Domplatz.«
    Unterdessen hatte der Droschkenkutscher sein ungeschicktes Manöver erfolgreich beendet, und ich hörte die Kutsche davonrollen. Als ich über die Schwelle trat, mußte ich ein paar Treppenstufen hinuntersteigen, denn das Niveau des gepflasterten Platzes vor der Tür hatte sich im Laufe der Jahrhunderte gehoben. In der dunklen, kleinen Eingangshalle fand ich mich vor dem Stiegenhaus wieder – tatsächlich bestand das Haus vorwiegend aus Treppen, denn es war eine altertümliche Konstruktion mit nur zwei Räumen in jedem Stockwerk. Nachdem ich Hut und Mantel abgelegt hatte, führte mich Austin in das untere Wohnzimmer. Ich konnte erkennen, daß der kleine Raum, der dahinter lag, die Küche war. Das Wohnzimmer oder das Eßzimmer, wie er es nannte – und an dem für zwei Personen gedeckten Tisch war zu erkennen, daß er hier seine Mahlzeiten einnahm –, war kalt, obwohl ein frisch entfachtes Feuer darin loderte.
    Im Licht der Gaslampe konnte ich Austin nun endlich genauer betrachten. Seine Nase war röter, als ich sie in Erinnerung hatte, und obwohl seine Haut immer noch so weiß war wie Papier, schien sie nun rauh und runzelig. Er war so schlank wie damals als junger Mann. (Ich fürchte, ich kann das nicht von mir behaupten.) Seltsamerweise kam er mir größer vor als früher. Als er meinen forschenden Blick bemerkte, lächelte er, und ich tat das gleiche. Dann wandte er sich ab und begann aufzuräumen, als habe er keinerlei Vorbereitungen für meine Ankunft getroffen.
    Unterdessen stellte er mir Fragen über meine Reise, und ich erkundigte mich nach dem Haus, seiner genauen Lage und seinen Annehmlichkeiten. Ich setzte mich auf einen der alten Stühle am Tisch. Das Mobiliar war schäbig und schadhaft und die Bezüge glänzten speckig. Die alte Holzvertäfelung war von den Kerzenflammen der Jahrhunderte geschwärzt, auf den nackten Dielenbrettern lag nur ein fadenscheiniger türkischer Teppich. Mein Herz begann ganz unsinnig zu klopfen. Diese Wohnung war so armselig, fast schon verwahrlost. Ich dachte an meine eigenen gemütlichen Räumlichkeiten und an die College-Dienstboten, die dafür sorgten, daß stets alles sauber und ordentlich war.
    Austin schenkte mir aus einer Karaffe, die auf einem Seitentisch stand, ein Glas Madeira ein. Als er mir das Glas reichte, fiel mir plötzlich der Geruch in diesem Haus auf – dick, schwer und irgendwie persönlich. Mit dem Glas in der Hand atmete ich mühsam durch die Nase. Ich schloß die Augen und dachte an die nahe Kathedrale, an Fleisch und Gebeine, die unter den Steinen verrotteten, an alles, was unter diesem Haus verborgen liegen mochte, das im Schatten des monumentalen Bauwerkes stand. Der Geruch war süß und obszön, wie ein verrottender Leichnam, der sich auf mich herabsenkte und mich in einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher