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Der Hausflug

Titel: Der Hausflug
Autoren: Gert Prokop
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Angeln mit Jonas
     
    I ch war entsetzlich müde, als ich Jonas zum ersten Mal begegnete. Nur dadurch habe ich seine Geschichte erfahren. Hätte ich mir sonst die Zeit genommen, am hellen Tag in der Sonne zu liegen und zu dösen? Erwachsen sein, das heißt auch, keine Zeit zu haben. Oder zu glauben, daß man keine hat. Richtige Erwachsene erlauben es sich höchstens am Wochenende oder im Urlaub, ein paar Stunden ungeniert faul zu sein. Viele nicht einmal dann. Aber es war Mittwoch, und ich hatte keinen Urlaub, im Gegenteil, ich hatte einen Termin: Der Verlag wartete auf mein neues Buch.
    Ich hatte die Nacht durchgearbeitet und trabte nun übernächtigt und mißmutig zum Fluß hinunter. Frische Luft, so hatte mein Vater gepredigt, frische Luft macht munter. Ich wurde nur noch müder davon. Ein paar Urlauber, die mir entgegenkamen, sahen mich empört an. Ich hatte vergessen, beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten.
    Am alten Bootssteg lag ein Junge, etwa zwölf Jahre alt, neben sich einen Stock als Angelrute; auf dem trägen Wasser schaukelte ein Flaschenkorken als Peese. Der Junge sah mißlaunig auf, als ich mich neben ihm auf die Wiese legte. Ich hielt das Gesicht in die Sonne – und schlief ein. Ich wurde wach, weil die Glocken läuteten. Der Junge sah verbissen herüber, als ich mich laut stöhnend räkelte.
    „Habe ich geschnarcht?“ fragte ich erschrocken. „Entschuldige bitte.“
    Er antwortete nicht. Wir lagen noch eine Weile so nebeneinander. Stumm wie die Fische, dachte ich. Die es im Fluß gar nicht mehr gab!
    „Ich will mich nicht einmischen“, sagte ich, „aber du hast deine Angel vergebens ausgelegt. Hier gibt es keine Fische; die Fabrikabwässer haben alles Leben im Fluß getötet.“
    „Ich weiß“, erwiderte er. „Ist auch gar kein Haken an der Schnur.“ Ich muß ein besonders dummes Gesicht gemacht haben, denn er lachte laut auf.
    „Warum“, fragte ich verdattert, „hast du dann die Angel ausgeworfen?“
    „Sind Sie neugierig?“ fragte er zurück.
    „Ja“, antwortete ich, „von Beruf.“
    Er richtete sich auf und musterte mich. „Kriminalist?“
    „Nein, Schriftsteller.“ Ich mußte erst sagen, welche Bücher ich geschrieben hatte, bevor er mir verriet, warum er ohne Haken angelte.
    „Wenn ich nur so rumsitze“, erklärte er, „lassen sich bestimmt bald ein paar Urlauber hier nieder und machen Krach. Oder es kommt einer und sagt, daß das Baden verboten ist – als könnte ich das Schild nicht lesen – und will mich wegscheuchen. Oder er bleibt da und paßt auf, daß ich nicht ins Wasser gehe. Oder einer setzt sich hin und will quatschen. Man hat keine Ruhe. Wenn ich aber angle, dann sind die Leute still und gehen weiter, fragen höchstens, ob die Fische auch beißen, und sind schon zufrieden, wenn ich nicke.“
    „Hast du noch ein Stück Schnur?“ fragte ich. Er hatte sogar einen Korken für mich. So begann unsere Bekanntschaft, nein, unsere Freundschaft.
    Jeden Nachmittag angelten wir uns jetzt gemeinsam ein Stück Stille. Wir sprachen kaum. Am dritten Tag erkundigte ich mich, ob er auch schon einmal richtig geangelt habe. Jonas nickte.
    „Auch Aale?“
    „Dutzendweise“, antwortete er. „Aber nicht geangelt, sondern mit den Händen gefangen. Und einen Riesenhecht.“ Er zeigte mit den Händen wie groß: über einen Meter lang.
    „Wo soll denn das gewesen sein?“ fragte ich spöttisch.
    „In der Ostsee.“ Er sah mir in die Augen, grinste dann. „Genauer gesagt: im Schlafzimmer des Hauses, mit dem ich nach Island geflogen bin.“
    Klar, ich fragte nicht weiter. Jonas beobachtete mich noch ein paar Minuten, zuckte dann mit den Schultern, nahm seine Angel und ging. Am nächsten Nachmittag jedoch fragte er, ob ich gar nicht neugierig sei, wieso er in der Ostsee. Aale mit den Händen gefangen hätte.
    „Dutzendweise. Im Schlafzimmer!“ Jetzt grinste ich.
    „Ehrlich, im Schlafzimmer.“
    „Eines Hauses, mit dem du nach Island geflogen bist“, sagte ich und legte mich wieder in die Sonne.
    „Stimmt.“ Jonas seufzte. „Aber kein Mensch würde es glauben. Es ist ja auch eine unglaubliche Geschichte.“
    „Erzähle“, forderte ich ihn auf. „Ich bin ein guter Zuhörer. Natürlich nur, wenn die Geschichte etwas taugt.“
    „Und ob“, rief er, „und ob sie etwas taugt! Es ist bestimmt die verrückteste, die du je gehört hast.“ Er duzte mich längst; Angeln ohne Haken verbindet ungemein.
    Wahrscheinlich war es Jonas in diesem Augenblick ganz egal, ob ich
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