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Der Hausflug

Titel: Der Hausflug
Autoren: Gert Prokop
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Professor im Fernsehen erklärt, dort, wo die verschiedenen Wissenschaften aufeinandertreffen, geschähen die erstaunlichsten Dinge. Warum sollte das nur für die Wissenschaft gelten?
    Jonas und sein Vater standen sonst nie so früh auf. Vater mußte nach Landsburg, das Auto aus der Werkstatt holen, und der Zug ging bereits vor sechs Uhr.
    „Ausgerechnet heute, wo du zur Oma fährst“, sagte Vater. „Das ist wirklich dumm. Aber du bist ja schon groß. Hast du auch nichts vergessen?“
    Jonas klopfte auf seinen Rucksack und machte ein Gesicht wie ein Bergsteiger, der schon ein Dutzend Himalaya-Expeditionen hinter sich hat.
    „Portemonnaie? Taschentuch? Uhr? Stullen? Taschenmesser…“ Jonas nickte jedesmal. Es war wie auf dem Flugplatz; da muß auch erst eine lange Liste durchgeprüft werden, bevor ein Flugzeug Starterlaubnis bekommt.
    „Na, dann“, sagte Vater. „Paß gut auf dich auf.“
    „Du auch“, erwiderte Jonas. Die beiden schüttelten sich die Hand wie zwei Feldherren, die getrennt in die Schlacht ziehen: ernst, aber zuversichtlich.
    Jonas hatte noch viel Zeit, sein Bus fuhr erst um halb acht. Er wusch das Frühstücksgeschirr ab, machte die Betten, gab den Blumen Wasser, fegte sogar aus; heute wäre er froh gewesen, wenn er noch mehr Hausarbeit gefunden hätte; zum Lesen hatte er keine Ruhe, auch nicht zum Basteln oder Malen. Schließlich nahm er seinen Rucksack und schloß die Tür hinter sich ab. Er würde einen Umweg durch die Gärten machen.
    An der Ecke war er schon ein Forscher, der in den Urwäldern des Amazonas nach Diamanten sucht, stellte sich vor, wie er durch das Urwalddickicht drang, schlug mit den Handkanten die imaginären Lianen beiseite; hinter der Ausfallstraße, wo das Gebiet der Papp6l-Bande begann, in das sich Jonas sonst kaum allein gewagt hätte, spielte er Alexander der Große, der in das Perserreich einfällt, reckte den Arm in die Luft, gab der unsichtbaren Reiterarmee das Zeichen zum Vormarsch und preschte los. Plötzlich riß er seinen weißen Hengst am Zügel zurück: „Brrrrh!“
    Seit wann stand denn dieses Haus auf der kleinen Festwiese? Ein Haus wie an der See: niedrig und gemütlich, weiß gekalkte Wände und grüne Fensterläden, eine blaue Tür mit gelben Blumen darauf und ein Strohdach mit gekreuzten Pferdeköpfen auf den Firsten. Ein schönes Haus, aber ganz fremd zwischen den Bungalows rundum. Als habe es sich verirrt. Und die Tür war offen. Rief da nicht jemand um Hilfe?
    Vielleicht war ein Unglück geschehen? Oder ein Verbrechen! Und er klärte es auf. Bevor noch die Kriminalpolizei aus Landsburg in Fichtenberg eintraf. Kommissar Jonas sog bedächtig an seiner unsichtbaren Pfeife, spähte in die Dunkelheit des Flurs, umrundete das Haus, versuchte vergeblich, in eines der Fenster zu blicken, überall waren die Vorhänge dicht zugezogen. Jonas steckte den Kopf in die Tür, rief laut: „Ist hier jemand?“
    Keine Antwort. Er wagte einen Schritt in das Haus, einen zweiten. Jetzt hörte er es ganz deutlich.
    „Komm! Hilf mir. Bitte!“
    Jonas riß die Türen auf. Die beiden Zimmer waren leer, auch in der Küche fand sich kein Verletzter, kein Hilfsbedürftiger, auch nicht in der Toilette. Jonas sah sogar hinter den Vorhang der Dusche. Vielleicht oben? Er hastete die steile Treppe hinauf. Die Dachkammer war verschlossen. Er wummerte mit der Faust gegen die Tür.
    „Hallo! Ist hier jemand?“
    Niemand antwortete. Jonas hielt den Atem an und lauschte. Nirgends ein Geräusch. Wahrscheinlich hast du nur geträumt, dachte er und ging wieder nach unten. Er blickte noch einmal in alle Räume. Die Zimmer sahen aus, als habe sich seit langem niemand mehr hier aufgehalten: aufgeräumt, die Betten sorgsam mit Leinentüchern abgedeckt. Warum aber hatte die Tür offengestanden?
    Jetzt war sie zu! Verschlossen! Jonas rüttelte mit beiden Händen an der Klinke, warf sich mit der Schulter gegen das Holz, holte sein Taschenmesser heraus, klappte die große Klinge auf, steckte sie in den Türspalt. Der Schnapper ließ sich ins Schloß zurückdrücken, doch die Tür rührte sich keinen Millimeter.
    „Heh!“ rief Jonas. „Was soll das? Ich will raus!“
    „Gleich“, sagte eine Stimme. „Setz dich doch. Bitte. Nur für einen Augenblick.“
    Jonas blickte sich verwirrt um. Wer hatte da gesprochen? Er lief ins Wohnzimmer, stürzte ans Fenster. Der Riegel ließ sich drehen, doch das Fenster ging nicht auf. Keines der Fenster. Jonas nahm das Messer fest in die Hand und holte
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