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Der Hausflug

Titel: Der Hausflug
Autoren: Gert Prokop
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er. Wohin er wollte. Wer konnte da widerstehen? Andererseits – wenn er nun nicht rechtzeitig nach Hunsbrück kam? Oma würde sich Sorgen machen. Und Vater erst!
    Vater wird bestimmt zur Polizei gehen und mich als vermißt melden, dachte Jonas. Und die Polizei wird die Krankenhäuser anrufen, die Unfallstelle, wird den Busfahrer fragen – niemand hat mich mehr gesehen, seit ich das Haus verlassen habe. Vielleicht denken sie, ich bin ertrunken, und suchen den Fluß ab, wie bei Tom Sawyer, schießen Kanonenkugeln ab, damit die Leiche an die Oberfläche kommt… Vater wird verzweifelt sein, wird sich Vorwürfe machen, daß er mich allein gelassen hat. Wie sollte er es Vater erklären? Die Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.
    „Nun, was ist?“
    „Laß mir Zeit“, sagte Jonas. „Ich muß erst nachdenken.“
    Doch er fand keine Ruhe zum Denken. Was er vor dem Fenster erblickte, nahm ihn völlig gefangen. Sie stiegen weiter, flogen jetzt schon ein ganzes Stück über den Wolken. Zwischen den Wolken! Unter ihnen breitete sich, so weit Jonas sehen konnte, eine dicke Wolkendecke mit bizarren Bergen und Türmen, über sich erblickte er dünne, ausfransende Wolkenschleier und darüber einen Himmel, wie er ihn noch nie gesehen hatte: blauschwarz. Doch, einmal hatte er solch einen Himmel schon gesehen, in einem Film über die Kosmonauten. Wollte das Haus mit ihm bis über die Atmosphäre steigen? Nein, jetzt schien es in dieser Höhe zu bleiben, es drehte ein wenig, die Sonne knallte ins Fenster, sie schien so grell, daß Jonas die Hand an die Stirn riß, um seine Augen zu schützen. Er holte die Mütze aus dem Rucksack, zog sie tief in die Stirn.
    Einmal um die Erde fliegen, dachte er. Und landen, wo immer es ihm paßte. Daß er den Fotoapparat nicht mitgenommen hatte! Aber er konnte Vater Ansichtskarten schicken: „Herzliche Grüße von meiner Erdumkreisung. Mir geht es gut. Ich bin gerade in Amerika zwischengelandet. Gestern war ich in Japan und China, vor zwei Stunden habe ich den Himalaya überflogen.“
    Und an seine Klasse! Die würden denken, er sei völlig verrückt. Aber da wären die Karten. Mit seiner Handschrift. In New York und Moskau, Tokio und Peking abgestempelt. Das Aufsehen, das er erregen würde, wenn er irgendwo landete. Auf einem Flugplatz?
    „Achtung, Achtung, wir geben die Landung eines fliegenden Hauses bekannt. Vorsicht auf Rollbahn sieben…“
    Wie die Reporter sich auf ihn stürzen würden, Dutzende von Fernsehkameras, eine Batterie von Mikrofonen. Sein Bild würde von allen Sendern der Welt gebracht, in jeder Nachrichtensendung wären er und das Haus die Sensation. Alle bestürmten ihn, wollten ein Interview: Wer bist du? Wo kommst du her? Wieso kann dein Haus fliegen?
    Und er konnte die wichtigste Frage nicht beantworten! Aber das würde er nicht zugeben. Er würde lächeln, mit den Schultern zucken und sagen: Das ist mein Geheimnis!
    Jonas schaukelte mit dem Stuhl und kicherte. Er stellte sich die Gesichter vor, wenn sie das fliegende Haus erblickten. Was würde Oma für ein Gesicht machen, wenn er heute abend vor ihrem Haus landete? Jonas schüttelte den Kopf. Er durfte Oma nicht so erschrecken. Dann erschrak er selbst.
    Bestimmt, dachte er, würde man ihn schon nach der ersten Landung nicht wieder fortlassen, im Gegenteil, man würde ihn festhalten, vielleicht sogar einsperren, um das Geheimnis des fliegenden Hauses von ihm zu erfahren. Er wußte doch aus dem Kino, wie es Leuten erging, die ein wichtiges Geheimnis kannten und es nicht verraten wollten.
    „Eh!“ rief Jonas. „Wieso kannst du eigentlich fliegen?“
    „Später“, sagte die Stimme. „Das erkläre ich dir später.“
    „Bestimmt? Großes Ehrenwort?“
    „Was ist das, ein großes Ehrenwort?“
    „Das heißt, daß du dein Versprechen auch ganz, ganz, ganz bestimmt halten wirst.“
    „Ja, ganz bestimmt. Wie sagtest du: Großes Ehrenwort?“
    „Verrate mir wenigstens, wo du herkommst“, sagte Jonas. Es dauerte eine Weile, bis die Stimme sich wieder meldete.
    „Wie meinst du das? Ich verstehe dich nicht.“
    „Nun, du mußt doch irgendwo gestanden haben, du mußt jemandem gehören, jemand muß dich gebaut haben – wer?“
    „Das weiß ich nicht. Und wem ich gehöre? Niemandem.“
    „Ich habe zwar schon von herrenlosen Hunden und Katzen gehört“, sagte Jonas, „aber noch nie von herrenlosen, herumstreunenden Häusern. Wenn du wirklich niemandem gehörst, dann bist du jetzt mein Haus. Einverstanden?“
    „Ja,
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