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0898 - Praxis des Teufels

0898 - Praxis des Teufels

Titel: 0898 - Praxis des Teufels
Autoren: Susanne Picard
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Auf den Fluren der Hue Wan-Klinik für Schönheitsoperationen war es still und dunkel.
    Kein Wunder um diese Tages- oder besser Nachtzeit: Die Zeiger der großen Wanduhr zeigten an, das die Stunde des Büffels angefangen hatte. Es war gegen halb drei Uhr.
    Schwester Debbie Chen, die diese Woche die Nachtschicht übernommen hatte, gähnte herzhaft und stand auf, um sich noch eine Tasse Kaffee zu holen. Es machte ihr Spaß, die allgemein üblichen Uhrzeiten in die traditionellen chinesischen umzurechnen. Ihre Großmutter hatte ihr das beigebracht. Überhaupt legte die alte Hakka-Dame enormen Wert auf Traditionen und ihre Enkelin Debbie glaubte an die Wahrheit in diesen Lehrsätzen. Die Stunde des Büffels bedeutete, dass es nur noch knapp fünf Stunden dauerte, bis Rita Liu von der Tagschicht kam.
    Noch einmal sagte Debbie sich die 12 Stunden vor, in die der chinesische Tag eingeteilt war, doch dann hörte sie auf einmal ein Geräusch.
    Über ihrem Schreibtisch, auf dem dié einzige Lichtquelle des Raums stand, eine kleine Lampe, blinkte an der Wand ein gelbes Licht. Das muss Mrs. Sorensen aus der 213 sein , dachte Debbie und stellte ihren Kaffee seufzend auf dem Schreibtisch ab und stand auf. Sie ging den langen Gang ihrer Station hinunter bis hin zu der Tür, die die Ziffer 213 in hübschen Bronzelettern trug. Die Hue Wan-Klinik für plastische Chirurgie und chinesische Medizin legte Wert darauf, nicht nur ein Krankenhaus, sondern mehr ein Sanatorium zu sein. Doch darüber dachte Debbie jetzt nicht nach.
    Sie blieb kurz vor der Tür stehen: Sie stand offen. Ein langgezogenes Stöhnen und Heulen klang aus diesem Spalt.
    Debbie lief ein Schauer über den Rücken. War das Mrs. Sorensen? Hatte sie Schmerzen? Sie war heute an ihrer Nase und an der Stirn operiert worden, ein Gesichts-Lifting, vielleicht schmerzten die OP-Wunden jetzt, wo die Narkose ein wenig abgeklungen war. Sie ging entschlossen auf die Tür zu, doch bevor sie sie endgültig öffnete, ließ etwas anderes sie wieder innehalten.
    Da war offenbar ein Mann neben Mrs. Sorensens Bett.
    Ein Mann? Die Gestalt, die Debbie jetzt durch den schmalen Türspalt erkennen konnte, war eigentlich kein Mensch. Obwohl - da waren Gliedmaßen, Arme, Beine und auch ein Kopf, aber die ganze Gestalt war bedeckt mit beinahe struppigem braunem Fell, aus den Schläfen ragten zwei lange gewundene Hörner und da - jetzt breitete die Gestalt zwei Schwingen aus ledriger Haut aus, die umgehend das gesamte Zimmer auszufüllen schienen. Überhaupt war die ganze Gestalt um einiges größer als ein normaler Durchschnittsmensch.
    Debbie stockte der Atem. Sie wollte wegrennen und fliehen, zurück zu ihrer Großmutter, die in einer kleinen Wohnung im Norden der Stadt lebte, dem Kowlooner Stadtteil Wang Tau Hong. Doch sie stand wie angewachsen da und beobachtete, wie die furchterregende Gestalt, die aussah wie ein Dämon aus den Erzählungen der Westler hier in Hongkong, sich jetzt über Mrs. Sorensen beugte. Wieder begann die Patientin, deren Gesicht und Kopf natürlich immer noch komplett in weiße Binden gewickelt war, aufzustöhnen. Debbie konnte die Todesangst in den Lauten hören und griff sich selbst unwillkürlich an den Jade-Anhänger, den ihre Großmutter ihr geschenkt hatte.
    Kind, das musst du bei deiner Arbeit immer tragen, hörte sie die Stimme der alten Frau. Du arbeitest mit dem Tod, du musst dich schützen, damit die Geister dich nicht holen oder dich auf ihre Seite ziehen.
    Der kleine Jadeanhänger auf ihrer Kehle fühlte sich heiß an, als sie ihn berührte. Sofort fühlte sie sich etwas sicherer, aber noch nicht wieder so, als dass sie hätte wegrennen können. Weiterhin starrte sie wie gebannt auf die Szene. Der Dämon oder Teufel oder was auch immer es war, beugte sich tiefer über das immer noch vermummte Gesicht von Gloria Sorensen und strich mit der Hand vorsichtig über ihre verbundene Stirn. Jedoch schien er darauf zu achten, sie nicht zu berühren. Dann murmelte er in einer tiefen Stimme, die leicht hallte und nicht von dieser Welt zu sein schien, ein paar Worte, die Debbie nicht verstand. Doch sie klangen unglaublich alt und unsagbar böse, und nicht so, als handele es sich um eine wirklich menschliche Sprache, die da gesprochen wurde. Kaum hatte der Fellbedeckte begonnen, die Worte auszusprechen, als sich auch schon ein weißer Nebel über dem Gesicht und über dem ganzen Körper von Mrs. Sorensen zu bilden begann. Der Nebel nahm immer stärker Kontur an, je weiter
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