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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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ergreifendes menschliches Drama, das sich einst genau in diesem Raum entfaltet hatte. Als er die Krankenblätter durchging, fielen ihm die meisten der dazugehörigen Gesichter sofort ein. Andere waren verblasst, aber ein paar Absätze mit Notizen beschworen auch sie wieder herauf. Nur wenige waren ganz vergessen, ihre Gesichter und Geschichten für immer verloren.
    Wie den meisten Therapeuten fiel es Julius schwer, sich von den unablässigen Angriffen abzuschotten, die gegen das Gebiet der Psychotherapie gerichtet waren. Sie kamen aus vielen Richtungen: von der pharmazeutischen Industrie und den Krankenversicherungen, die oberflächliche Studien finanzierten, um die Effektivität von Medikamenten und kürzeren Therapien herauszustreichen, von den Medien, die nie überdrüssig wurden, Therapeuten ins Lächerliche zu ziehen, von Behavioristen, von Motivationsgurus, von den Horden der New-Age-Heiler und Sekten, die um die Herzen und Hirne der Mühseligen und Beladenen wetteiferten. Und natürlich gab es auch Zweifel aus internen Kreisen: Die außerordentlichen molekular-neurobiologischen Entdeckungen, über die mit wachsender Häufigkeit berichtet wurde, veranlassten auch die erfahrensten Therapeuten, die Relevanz ihrer Arbeit zu hinterfragen.
    Julius war nicht immun gegen diese Attacken und hatte oft Bedenken, was die Wirksamkeit seiner Therapien betraf, aber ebenso oft beschwichtigte und beruhigte er sich. Natürlich war er ein effektiver Heiler. Natürlich bot er den meisten seiner Patienten, vielleicht sogar allen, etwas Wertvolles.
    Dennoch verfolgte ihn der Stachel des Zweifels weiterhin: Hast du deinen Patienten wirklich und wahrhaftig geholfen? Vielleicht hast du einfach nur gelernt, dir die Patienten auszusuchen, denen es auch von selbst besser gegangen wäre.
    Nein. Falsch! War er nicht einer, der sich immer wieder großen Herausforderungen gestellt hatte?
    Na ja, er hatte seine Grenzen! Wann hatte er sich zum letzten
Mal wirklich gefordert – einen eklatanten Borderline-Fall therapiert? Oder einen ernsthaft gestörten Schizophrenen oder einen bipolaren Patienten?
    Als er fortfuhr, seine alten Krankenakten durchzugehen, war Julius überrascht darüber, wie viele Informationen er besaß, die das Hinterher einer Psychotherapie betrafen – durch gelegentliche Anschluss- oder Nachsorge-Gespräche, durch zufällige Begegnungen mit Patienten oder durch Nachrichten neuer Patienten, denen er empfohlen worden war. Aber trotzdem, hatte er nachhaltigen Einfluss auf sie gehabt? Vielleicht waren seine Resultate nicht von Dauer. Vielleicht hatten viele seiner erfolgreich behandelten Patienten einen Rückfall erlitten und enthielten ihm diese Tatsache aus reiner Nächstenliebe vor.
    Er nahm auch seine Misserfolge zur Kenntnis – Menschen, so hatte er sich stets gesagt, die für seine fortschrittlichen Methoden noch nicht bereit waren. Halt, dachte er dann, sei nicht so streng mit dir, Julius. Woher willst du wissen, dass sie wirklich Misserfolge waren? Permanente Misserfolge? Du hast sie ja nie mehr gesehen. Wir wissen alle, dass es eine Menge Spätzünder gibt.
    Sein Blick fiel auf Philip Slates dicke Akte. Du willst einen Misserfolg?, fragte er sich. Das hier war einer. Ein klassischer, grandioser Misserfolg. Philip Slate. Mehr als zwanzig Jahre waren vergangen, doch das Bild von Philip Slate stand ihm noch immer deutlich vor Augen. Sein hellbraunes, glatt zurückgekämmtes Haar, die dünne, elegante Nase, jene hohen Wangenknochen, die Adel suggerierten, und die lebendigen grünen Augen, die ihn an karibische Gewässer erinnerten. Er entsann sich, wie sehr ihm an den Sitzungen mit Philip alles missfallen hatte. Bis auf das eine: das Vergnügen, sein Gesicht zu betrachten.
    Philip Slate war sich selbst so sehr entfremdet, dass ihm nie der Gedanke kam, in sich hineinzuschauen; stattdessen glitt er lieber auf der Oberfläche des Lebens dahin und widmete all
seine Energie der sexuellen Ausschweifung. Dank seines hübschen Gesichts hatte er keinen Mangel an Freiwilligen. Julius schüttelte den Kopf, als er Philips Akte durchblätterte – drei Jahre Sitzungen, so viel Zuhören und Unterstützung und Anteilnahme, so viele Interpretationen, und alles ohne einen Hauch von Fortschritt. Erstaunlich! Vielleicht war er doch nicht der Therapeut, für den er sich hielt.
    Zieh keine voreiligen Schlüsse, sagte er sich. Warum hätte Philip drei Jahre lang kommen sollen, wenn er nichts davon gehabt hätte? Warum hätte er all das
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