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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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Nachwehen.
    Bob King war vor Jahren Julius’ Patient gewesen, wie eine beträchtliche Anzahl von Ärzten in San Francisco. Julius herrschte seit dreißig Jahren über die psychiatrische Gemeinde der Stadt. In seiner Position als Professor für Psychiatrie an der University of California hatte er massenweise Studenten ausgebildet und war vor fünf Jahren Präsident der American Psychiatric Association geworden.
    Sein Ruf? Ein Arzt für Ärzte, ohne Wenn und Aber. Ein Retter in letzter Minute, ein gerissener Hexenmeister, der willens war, alles zu tun, um seinen Patienten zu helfen. Das war auch der Grund gewesen, weswegen Bob King Julius vor zehn Jahren aufgesucht hatte, um seine seit langem bestehende Abhängigkeit von Vicodin (die von süchtigen Ärzten bevorzugte Droge, weil sie so leicht zugänglich ist) behandeln zu lassen. King steckte damals in ernsthaften Schwierigkeiten. Sein Vicodin-Bedarf hatte sich drastisch erhöht, seine Ehe war in Gefahr, seine Arbeit litt darunter, und er musste sich jeden Abend betäuben, um einschlafen zu können.

    Bob hatte es mit einer Therapie versuchen wollen, doch ihm waren alle Türen verschlossen. Jeder Therapeut, den er konsultierte, bestand darauf, er solle an einem Entzugsprogramm für suchtkranke Ärzte teilnehmen, ein Plan, dem Bob sich widersetzte, weil ihm der Gedanke verhasst war, sich in Therapiegruppen vor anderen Ärzten bloßzustellen. Die Therapeuten insistierten. Wenn sie einen praktizierenden Süchtigen ohne das offizielle Entzugsprogramm behandelten, gingen sie das Risiko einer Strafverfolgung durch die Gesundheitsbehörde oder das eines persönlichen Rechtsstreits ein (falls der Patient beispielsweise bei seiner klinischen Arbeit ein falsches Urteil fällte).
    Julius war damals die letzte Zuflucht gewesen. Sonst hätte er seine Praxis schließen und Urlaub nehmen müssen, um sich in einer anderen Stadt anonym behandeln zu lassen. Julius ging das Risiko ein und vertraute darauf, dass Bob King den Vicodin-Entzug auch so schaffte. Und obgleich die Therapie schwierig war, wie sie es bei Suchtkranken immer ist, behandelte Julius Bob für die nächsten drei Jahre ohne die Hilfe eines Entzugsprogramms. Es blieb eines der Geheimnisse, die jeder Psychiater hat – ein therapeutischer Erfolg, der auf keinen Fall erörtert oder publiziert werden durfte.
    Julius saß in seinem Wagen, nachdem er die Praxis seines Internisten verlassen hatte. Sein Herz hämmerte so heftig, dass das Auto zu erzittern schien. Er holte tief Luft, um seine wachsende Panik in den Griff zu bekommen, dann noch einmal und noch einmal und klappte sein Handy auf, um mit flatternden Händen einen umgehenden Termin bei Bob King zu vereinbaren.
    »Das gefällt mir nicht«, sagte Bob am nächsten Vormittag, als er Julius’ Rücken mit einem großen, runden Vergrößerungsglas studierte. »Hier, schauen Sie selbst; mit zwei Spiegeln geht das.«
    Bob ließ ihn vor dem Wandspiegel Aufstellung nehmen und hielt einen großen Handspiegel an das Mal. Julius sah den Dermatologen
an: blond, rötliches Gesicht, dicke Brillengläser, die auf einer langen, imposanten Nase thronten – er erinnerte sich daran, wie Bob ihm erzählt hatte, dass die anderen Kinder ihn gehänselt und »Gurkennase« gerufen hatten. Er hatte sich in den zehn Jahren nicht sehr verändert. Er wirkte gehetzt, ebenso wie er es in seiner Zeit als Julius’ Patient gewesen war, als er schnaufend und pustend immer ein paar Minuten zu spät gekommen war. Oft war ihm damals der Spruch des weißen Kaninchens aus Alice im Wunderland in den Sinn gekommen: »Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät!«, wenn Bob in sein Sprechzimmer stürzte. Er hatte zugenommen, war aber so klein wie eh und je. Er sah aus wie ein Dermatologe. Wer hat jemals einen hochgewachsenen Dermatologen erblickt? Dann schaute Julius ihm in die Augen – oh, oh, sie schienen besorgt  –, die Pupillen waren riesig.
    »Hier ist das Viech.« Julius sah im Spiegel, dass Bob mit dem Radiergummi-Ende eines Stifts darauf zeigte. »Dieses flache Mal unter Ihrem rechten Schulterblatt. Sehen Sie es?«
    Julius nickte.
    Bob hielt ein kleines Lineal daran und fuhr fort: »Es misst fast einen Zentimeter. Sicher erinnern Sie sich an die ABCD-Regel aus Ihrem Dermatologiekurs an der Uni –«
    Julius unterbrach ihn. »Ich erinnere mich an nichts aus dem Dermatologiekurs. Betrachten Sie mich als Idioten.«
    »Okay. ABCD. A wie Asymmetrie – schauen Sie hier.« Er schob den Stift auf
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