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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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Pathologen
entgegen. Als er sah, wie Julius den Kopf schüttelte, blätterte Bob den Bericht durch und begann: »Okay, schauen wir mal. Ich muss Ihnen sagen: Es klingt nicht gut. Das Wichtigste: Es ist ein Melanom mit mehreren ... äh ... bemerkenswerten Eigenschaften: Es reicht tief, über vier Millimeter, ist geschwürig, und fünf Lymphknoten sind befallen.«
    »Und das bedeutet? Los, Bob, reden Sie nicht drum herum. ›Bemerkenswert, vier Millimeter, geschwürig, fünf Lymphknoten‹? Reden Sie Klartext. Sprechen Sie mit mir, als ob ich ein Laie wäre.«
    »Das sind schlechte Nachrichten. Es ist ein ziemlich großes Melanom, und es hat bereits auf die Lymphknoten übergegriffen. Die Gefahr dabei ist eine weitere Streuung, aber das wissen wir erst nach der CT, die ich für morgen um acht vereinbart habe.«
    Zwei Tage später setzten sie ihr Gespräch fort. Bob berichtete, dass der CT-Befund negativ war – keinerlei Hinweise auf eine weitere Ausbreitung irgendwo sonst im Körper. Das waren die ersten guten Neuigkeiten. »Aber trotzdem, Julius, es ist ein gefährliches Melanom.«
    »Wie gefährlich?« Julius räusperte sich, seine Stimme klang heiser. »Wovon sprechen wir? Wie hoch ist die Überlebensrate?«
    »Sie wissen, dass wir diese Frage nur mit statistischen Werten beantworten können. Jeder Mensch ist anders. Aber bei einem geschwürigen Melanom, vier Millimeter tief, und fünf befallenen Lymphknoten zeigt die Statistik eine fünfjährige Überlebensrate von unter fünfundzwanzig Prozent.«
    Julius saß etliche Momente mit gesenktem Kopf, klopfendem Herzen und Tränen in den Augen da, ehe er bat: »Weiter. Sie sind aufrichtig. Ich muss wissen, was ich meinen Patienten sagen soll. Wie schaut der Verlauf in meinem Fall aus? Was wird passieren?«
    »Es ist unmöglich, das genau vorherzusagen, denn es passiert erst einmal nichts, so lange bis das Melanom nicht an anderer
Stelle wieder auftritt. In dem Fall könnte es, besonders, wenn es metastasiert, rasch gehen, dann ist von Wochen oder Monaten die Rede. Was Sie Ihren Patienten sagen sollen – schwer zu sagen, aber es wäre nicht unrealistisch, auf mindestens noch ein Jahr bei guter Gesundheit zu hoffen.«
    Julius nickte langsam mit gesenktem Kopf.
    »Wo sind Ihre Angehörigen, Julius? Hätten Sie nicht jemanden mitbringen sollen?«
    »Ich glaube, Sie haben vom Tod meiner Frau vor zehn Jahren gehört. Mein Sohn ist an der Ostküste und meine Tochter in Santa Barbara. Ich habe ihnen noch nichts gesagt; ich fand es nicht sinnvoll, ihr Leben unnötig durcheinanderzubringen. Im Allgemeinen lecke ich meine Wunden sowieso lieber allein, aber ich bin mir sicher, dass meine Tochter sofort herkommen wird.«
    »Julius, es tut mir so Leid, Ihnen dies alles sagen zu müssen. Lassen Sie mich unser Gespräch mit einer positiven Nachricht beenden. Inzwischen wird mit Hochdruck geforscht – es gibt etwa ein Dutzend äußerst rege Labors in diesem Land und in Übersee. Aus unbekannten Gründen hat sich das Auftreten von Melanomen in den letzten Jahren nahezu verdoppelt, es ist deshalb ein intensives Forschungsgebiet. Gut möglich, dass wir kurz vor einem Durchbruch stehen.«
     
    Die nächste Woche verlebte Julius in einer Art Trance. Seine Tochter Evelyn, Professorin für klassische Literatur, sagte ihre Vorlesungen ab und kam sofort, um einige Tage mit ihm zu verbringen. Er führte ausführliche Gespräche mit ihr, seinem Sohn, seiner Schwester, seinem Bruder und mit engen Freunden. Oft wachte er mitten in der Nacht panisch auf, schreiend und nach Luft ringend. Er sagte seine Sitzungen ab, sowohl die mit seinen Einzelpatienten als auch die seiner Therapiegruppe, und sann Stunden darüber nach, wie und was er ihnen erzählen sollte.
    Der Spiegel sagte ihm, dass er nicht aussah wie ein Mann,
der sein Lebensende erreicht hat. Sein täglicher Fünf-Kilometer-Lauf hatte seinen Körper jung und drahtig erhalten, ohne ein Gramm Fett. Um Augen und Mund waren ein paar Falten. Nicht viele – sein Vater war ohne eine einzige gestorben. Julius hatte grüne Augen; er war immer stolz auf sie gewesen. Einen eindringlichen und aufrichtigen Blick. Augen, denen man vertrauen konnte, Augen, die jedem Blick trotzten. Junge Augen, die Augen des sechzehnjährigen Julius. Der Sterbende und der Sechzehnjährige schauten einander über die Jahrzehnte hinweg an.
    Er sah auf seine Lippen. Volle, freundliche Lippen. Lippen, die sogar jetzt in der Zeit der Verzweiflung stets ein warmherziges
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