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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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gar nicht so schlecht wäre. Er schreckte vor seinem eigenen Gedanken zurück, als hätte er sich versengt – so durch und durch gefangen war er in seinem lebenslangen Antagonismus gegen Rituale. Er hatte die Instrumente immer verachtet, mit denen Religionen ihre Anhänger ihrer Vernunft und Freiheit berauben: die zeremoniellen Gewänder, den Weihrauch, die heiligen Bücher, die hypnotisierenden gregorianischen Gesänge, die Gebetsmühlen, Gebetsteppiche, Schals und Käppchen, die Bischofsmützen und -stäbe, die Oblaten und den Messwein, die Sterbesakramente, die zu uralten Liedern auf und ab wippenden Köpfe und sich wiegenden Körper – all das waren für ihn die Utensilien des wirkungsvollsten und ältesten Schwindels in der Geschichte, eines Schwindels, der den Führern Macht verlieh und die Lust der Gemeinde an Unterwerfung befriedigte.

    Aber nun, da der Tod neben ihm stand, bemerkte Julius, dass seine Vehemenz an Schärfe verloren hatte. Vielleicht war es lediglich das aufgezwungene Ritual, das ihm missfiel. Vielleicht ließ sich ja ein gutes Wort für ein klein wenig kreatives persönliches Zeremoniell einlegen. Er war gerührt von den Zeitungsberichten über die Feuerwehrleute am Ground Zero in New York, die stehen blieben und die Helme abnahmen, um die Toten zu ehren, während eine Palette nach der anderen mit neu entdeckten Überresten an die Oberfläche befördert wurde. Es war nichts Verkehrtes daran, die Toten zu ehren . . . nein, nicht die Toten, sondern das Leben derer zu ehren, die gestorben waren. Oder war es mehr als ehren, eher etwas wie heilig sprechen? Bedeutete die Geste, das Ritual der Feuerwehrmänner nicht auch Verbundenheit? Die Anerkennung ihrer Beziehung zueinander, ihrer Einheit mit jedem einzelnen Opfer?
    Ein paar Tage nach dem schicksalhaften Treffen mit seinem Dermatologen bekam Julius selbst eine Kostprobe von Verbundenheit, als er an der Zusammenkunft seiner Psychotherapeuten-Selbsthilfegruppe teilnahm. Seine Kollegen waren niedergeschmettert, als Julius ihnen von seinem Melanom erzählte. Nachdem sie ihn ermutigt hatten, sich auszusprechen, äußerte jedes Gruppenmitglied seinen Schock und Kummer. Danach fand Julius keine Worte mehr, und das galt auch für die anderen. Ein paar Mal setzte jemand zum Reden an, schwieg dann aber doch lieber, und dann war es, als wäre die Gruppe nonverbal übereingekommen, dass Worte nicht notwendig waren. Die letzten zwanzig Minuten saßen alle schweigend da. So lange Perioden des Schweigens in einer Gruppe sind fast unweigerlich peinlich, doch diese fühlte sich anders an, beinahe tröstlich. Mit Verlegenheit gestand Julius sich ein, dass das Schweigen ihm »heilig« erschien. Später wurde ihm klar, dass die anderen nicht nur Schmerz geäußert, sondern auch ihre Kopfbedeckungen abgenommen, gemeinsam still dagestanden und sein Leben geehrt hatten.
    Und vielleicht ehrten sie damit auch ihr eigenes Leben,
dachte Julius. Was haben wir denn sonst? Was außer diesem wunderbaren, begnadeten Intervall des Seins und der Selbstbewusstheit? Wenn etwas geehrt und gesegnet werden kann, sollte es das sein – das kostbare Geschenk der bloßen Existenz. Zu verzweifeln, weil das Leben endlich ist oder weil es keinen höheren Zweck oder festen Entwurf hat, ist krasse Undankbarkeit. Sich einen allwissenden Schöpfer zu erträumen und unser Leben endlosen Kniefällen zu widmen, scheint sinnlos. Und außerdem verschwenderisch: Warum all diese Liebe an ein Phantasma vergeuden, wenn doch auf Erden viel zu wenig Liebe ist? Besser war es, sich Spinozas und Einsteins Haltung zu Eigen zu machen: sich einfach zu verneigen, den eleganten Gesetzen und Mysterien der Natur seine Reverenz zu erweisen und sich der Aufgabe des Lebens zu widmen.
    Dies waren keine neuen Gedanken für Julius – er hatte immer gewusst, dass alles endlich und jede Selbstbewusstheit vergänglich war. Doch es gab Wissen und Wissen. Und die nähere Gegenwart des Todes beförderte sein Wissen. Nicht etwa, dass er weiser geworden wäre; es war nur so, dass das Wegfallen von Ablenkungen – Ehrgeiz, sexuelle Leidenschaft, Geld, Prestige, Applaus, Popularität – ihm ein unverfälschteres Bild bot. War ein derartiges Loslassen nicht die Wahrheit des Buddha? Vielleicht, aber Julius zog den Weg der Griechen vor: alles in Maßen. Wir verpassen zu viel von dem, was das Leben zu bieten hat, wenn wir nie die Mäntel ausziehen und an seinen Belustigungen teilnehmen. Warum zur Tür hinausstürzen, ehe der
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