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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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Lächeln zu zeigen schienen. Er hatte einen dichten Schopf ungebärdiger schwarzer Locken, die nur an den Schläfen grau wurden. Als er noch ein Teenager in der Bronx war, pflegte der alte, weißhaarige, rotgesichtige antisemitische Friseur, dessen winziger Laden zwischen Meyers Süßwarengeschäft und Morris’ Fleischerei lag, sein widerspenstiges Haar zu verfluchen, während er mit einem Stahlkamm daran zerrte und es schnitt und ausdünnte. Mittlerweile waren Meyer, Morris und der Friseur tot, und der kleine sechzehnjährige Julius stand auf der Warteliste des Todes.
    Eines Nachmittags versuchte er, ein Gefühl der Kontrolle zu gewinnen, indem er in der Bibliothek der medizinischen Fakultät die Literatur über Melanome las, doch das erwies sich als fruchtlos. Schlimmer als fruchtlos – es machte alles nur noch schlimmer. Je besser Julius die wahrhaft grässliche Natur seiner Krankheit erfasste, desto mehr erschien ihm das Melanom als eine gefräßige Kreatur, die ihre ebenholzschwarzen Fänge tief in sein Fleisch schlug. Wie erschreckend zu erkennen, dass er plötzlich nicht mehr die höchste Lebensform war! Er diente nur noch als Gastgeber, war Nahrung, Speise für einen besser angepassten Organismus, dessen gierige Zellen sich in Schwindel erregendem Tempo teilten, ein Organismus, der einen Blitzkrieg führte und benachbartes Protoplasma annektierte
und inzwischen zweifellos Zellschwärme für Kreuzzüge in den Blutkreislauf und die Kolonisierung ferner Organe ausrüstete, vielleicht des wohlschmeckenden, mürben Weidelands seiner Leber oder der schwammigen, grasigen Wiesen seiner Lunge.
    Julius legte seine Lektüre beiseite. Über eine Woche war vergangen, und es wurde Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Die Stunde war gekommen, in der er sich mit dem konfrontieren musste, was eigentlich geschah. Setz dich hin, Julius, befahl er sich. Setz dich hin und meditiere übers Sterben. Er schloss die Augen.
    So zeigt sich also, dachte er, der Tod endlich auf der Bühne meines Lebens. Aber was für ein banaler Auftritt – die Vorhänge mit einem Ruck aufgerissen von einem pummeligen Dermatologen mit Gurkennase, ein Vergrößerungsglas in der Hand und gewandet in einen weißen Arztkittel, auf dessen Brusttasche in dunkelblauen Buchstaben sein Name gestickt war.
    Und die Schlussszene? Höchstwahrscheinlich ebenso banal. Als Kostüm würde er sein zerknittertes, gestreiftes New-York-Yankees-Nachthemd mit DiMaggios Nummer 5 auf dem Rücken tragen. Die Kulisse? Dasselbe Doppelbett, in dem er seit dreißig Jahren schlief, zerknüllte Kleidungsstücke auf dem Stuhl daneben und auf seinem Nachttisch ein Stapel ungelesener Romane, die nicht wussten, dass ihre Zeit jetzt nie mehr kommen würde. Ein jämmerliches, enttäuschendes Finale. Bestimmt verdiente das glorreiche Abenteuer seines Lebens doch etwas mehr . . . mehr . . . mehr von was?
    Ihm kam eine Szene in den Sinn, die er vor ein paar Monaten während eines Hawaii-Urlaubs miterlebt hatte. Beim Wandern war er ganz zufällig auf ein großes buddhistisches Meditationszentrum gestoßen und hatte dort eine junge Frau gesehen, die ein kreisförmiges Labyrinth abschritt, das aus kleinen Lavasteinen bestand. Als sie das Zentrum des Labyrinths erreichte, blieb sie stehen und verweilte reglos in einer ausgiebigen Meditation. Julius’ Reaktionen auf derartige religiöse Rituale
waren üblicherweise nicht von Nachsicht getragen, sondern im Allgemeinen irgendwo zwischen Spott und Abscheu angesiedelt.
    Aber als er jetzt an die meditierende junge Frau dachte, empfand er mildere Gefühle – eine Welle des Mitleids ergriff ihn, mit ihr und all seinen Mitmenschen, die Opfer jener außergewöhnlichen Laune der Evolution waren, welche Selbstbewusstheit gewährt, jedoch nicht die psychische Ausstattung, die erforderlich ist, um mit dem Schmerz über die Vergänglichkeit der Existenz fertig zu werden. Weshalb die Menschen im Laufe der Jahre, der Jahrhunderte, der Jahrtausende immer besser darin geworden waren, behelfsmäßige Leugnungen der Endlichkeit zu konstruieren. Würde sich für uns, für irgendeinen von uns, die Suche nach einer höheren Macht, mit der wir verschmelzen und für immer eins sein können, nach von Gott überlieferten Anweisungen, nach einem Zeichen für einen umfassenderen festgelegten Entwurf, nach Ritual und Zeremoniell jemals erledigen?
    Und doch, als Julius jetzt seinen Namen auf der Liste des Todes sah, fragte er sich, ob ein wenig Zeremoniell womöglich
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