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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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Vorhang fällt?

    Nach ein paar Tagen, als Julius sich ruhiger und nicht mehr vollkommen von Wogen der Panik überwältigt fühlte, wandten sich seine Gedanken der Zukunft zu. »Ein gutes Jahr wahrscheinlich«, hatte Bob King gesagt, »es wäre nicht unrealistisch, auf mindestens noch ein Jahr bei guter Gesundheit zu hoffen.« Doch wie sollte er dieses Jahr verbringen? Eins beschloss
er jedenfalls: dieses eine gute Jahr nicht zu einem schlechten Jahr zu machen, indem er sich darüber grämte, dass es nicht mehr war als ein Jahr.
    Eines Nachts, als er nicht schlafen konnte und sich nach etwas Tröstlichem sehnte, durchstöberte er rastlos seine Bibliothek. Auf seinem eigenen Gebiet fand er nichts, das für seine Lebenssituation auch nur im Entferntesten relevant erschien, nichts, das sich darauf bezog, wie man seine restlichen Tage leben oder Sinn in ihnen finden sollte. Aber dann fiel sein Blick auf eine eselsohrige Ausgabe von Nietzsches Also sprach Zarathustra. Dieses Buch kannte Julius gut: Vor Jahrzehnten hatte er es gründlich studiert, als er einen Artikel über den erheblichen, jedoch nicht eingestandenen Einfluss von Nietzsche auf Freud geschrieben hatte. Zarathustra war ein mutiges Buch, dachte Julius, das mehr als jedes andere lehrt, wie sehr man das Leben ehren und feiern muss. Ja, das konnte das Richtige sein. Zu unruhig, um systematisch zu lesen, blätterte er willkürlich die Seiten um und überflog einige Zeilen, die er hervorgehoben hatte.
    »Die Vergangnen zu erlösen und alles Es war umzuschaffen in ein So wollte ich es! – das hieße mir erst Erlösung.«
    Julius verstand Nietzsches Worte so, dass er sich entscheiden sollte, welches Leben er wählte – er sollte es leben, statt von ihm gelebt zu werden. Anders gesagt, er musste sein Schicksal lieben. Und vor allem war da Zarathustras oft gestellte Frage, ob wir willens wären, das Leben, das wir führen, genauso bis in alle Ewigkeit zu wiederholen. Ein seltsames Gedankenexperiment  – dennoch, je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Anleitung bot es ihm: Nietzsches Botschaft an uns war, das Leben so zu leben, dass wir bereit wären, es auf dieselbe Weise ewig zu wiederholen.
    Er blätterte weiter und hielt bei zwei Sätzen inne, die deutlich in Neonrosa hervorgehoben waren. In einem hieß es, man solle sein Leben ausschöpfen, im anderen: »Stirb zur rechten Zeit.«

    Sie trafen ins Schwarze. Lebe dein Leben bis zum Äußersten, und dann und erst dann stirb. Lass kein ungelebtes Leben zurück. Julius verglich Nietzsches Worte oft mit einem Rorschach-Test: Sie ermöglichten ihren Lesern so viele Sichtweisen, dass es von ihrer geistigen Verfassung abhing, was sie damit anfingen. Als er Nietzsche jetzt las, war er in einer sehr veränderten geistigen Verfassung. Die Gegenwart des Todes führte zu einem besseren Verständnis des Gelesenen: Auf jeder Seite sah er Hinweise auf eine pantheistische Verbundenheit, die ihm vorher entgangen waren. Wie sehr Zarathustra auch die Einsamkeit pries, sie sogar glorifizierte, wie sehr er sie auch für erforderlich hielt, um große Gedanken zu gebären, fühlte er sich doch dazu verpflichtet, andere zu lieben und ihnen Auftrieb zu geben, ihnen zu helfen, sich zu vervollkommnen und zu transzendieren, an seiner Reife teilzuhaben. An seiner Reife teilhaben – das traf ins Schwarze.
    Nachdem Julius den Zarathustra an seinen Platz zurückgestellt hatte, saß er im Dunkeln da, starrte auf die Lichter der Autos, die die Golden Gate Bridge überquerten, und dachte über Nietzsches Worte nach. Nach ein paar Minuten hatte er es: Er wusste genau, was er tun und wie er sein letztes Jahr verbringen würde. Er würde genauso leben, wie er im vergangenen Jahr gelebt hatte – und im Jahr davor und dem davor. Er liebte es, Therapeut zu sein; er liebte es, eine Verbindung mit anderen zu knüpfen und dazu beizutragen, dass etwas in ihnen zum Leben erwachte. Vielleicht war seine Arbeit eine Sublimierung für den Verlust seiner Frau; vielleicht brauchte er den Applaus, die Bestätigung und Dankbarkeit derer, denen er half. Trotzdem, selbst wenn unklare Motive eine Rolle spielen sollten, war er dankbar für seine Arbeit. Gott segne sie!
     
    Julius trat an die mit Aktenschränken vollgestellte Wand und öffnete eine Schublade, die gefüllt war mit Krankenblättern und Bändern von aufgezeichneten Sitzungen mit Patienten, die er vor langer Zeit behandelt hatte. Er starrte auf die Namen
 – jede Akte Denkmal für ein
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