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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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manche Dinge verändern sich nie – der Alte ist immer noch zu Scherzen aufgelegt. Hier in aller Kürze, warum ich anrufe. Ich habe gesundheitliche Probleme und ziehe den Ruhestand in Betracht. Im Laufe dieser Überlegung habe ich den unwiderstehlichen Drang entwickelt, mich mit einigen meiner ehemaligen Patienten zu treffen – nur um zu verfolgen, wie sie sich entwickelt haben, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Ich erkläre Ihnen das gern ausführlicher, wenn Sie wollen. Also – hier meine Frage an Sie: Wären Sie bereit, sich mit mir zu treffen? Eine Stunde mit mir zu reden? Rückschau auf unsere gemeinsame Therapie zu halten und mir zu berichten, wie es Ihnen ergangen
ist? Für mich wäre das interessant und erhellend. Wer weiß – vielleicht ja auch für Sie.«
    »Hm . . . eine Stunde. Klar. Wieso nicht? Ich gehe davon aus, dass Sie kein Honorar verlangen?«
    »Eher könnten Sie mir eine Rechnung stellen, Philip – schließlich bitte ich Sie um Ihre Zeit. Wie wär’s noch diese Woche? Sagen wir Freitagnachmittag?«
    »Freitag? Gut. Das passt. Ich räume Ihnen ab ein Uhr eine Stunde ein. Ich werde keine Bezahlung für meine Dienste verlangen, aber diesmal sollten wir uns in meiner Praxis treffen – sie ist in der Union Street – Nummer 431. Nicht weit von der Franklin. Die genaue Lage finden Sie auf dem Gebäudewegweiser  – ich stehe da als Dr. Slate. Ich bin jetzt auch Therapeut.«
     
    Julius fröstelte es, als er den Hörer auflegte. Er wirbelte in seinem Sessel herum und verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf die Golden Gate Bridge zu werfen. Nach diesem Anruf musste er etwas Schönes sehen. Und etwas Warmes in seinen Händen spüren. Er füllte seine Meerschaumpfeife mit Balkan Sobranie, zündete ein Streichholz an und sog.
    Verdammt, dachte er, dieser warme, erdige Geschmack von Latakiatabak, dieser honigartige, pikante Duft – es gab nichts Besseres auf der Welt. Schwer zu glauben, dass er so viele Jahre darauf verzichtet hatte. Er versank in einen Tagtraum und dachte an den Tag, an dem er aufgehört hatte zu rauchen. Musste gleich nach seinem Besuch beim Zahnarzt gewesen sein, seinem Nachbarn, dem alten Dr. Denboer, der seit zwanzig Jahren tot war. Zwanzig Jahre – wie konnte das sein? Julius sah sein langes holländisches Gesicht und die goldgefasste Brille immer noch ganz deutlich vor sich. Der alte Dr. Denboer, schon zwanzig Jahre unter der Erde. Und er, Julius, immer noch auf ihr. Fürs Erste.
    »Die Pustel da an Ihrem Gaumen«, Dr. Denboer schüttelte leicht den Kopf, »sieht Besorgnis erregend aus. Wir brauchen
eine Biopsie.« Und obwohl der Befund negativ gewesen war, hatte er Julius damit gehabt, weil dieser in derselben Woche auch zur Beerdigung von Al ging, seinem alten Zigaretten rauchenden Tenniskumpel, der an Lungenkrebs gestorben war. Und es half auch nicht gerade, dass er mitten in der Lektüre von Sigmund Freud. Leben und Sterben war, geschrieben von Max Schur, dem Arzt Freuds – eine plastische Schilderung, wie Freuds durch Zigarren verursachter Krebs allmählich seinen Gaumen, dann seinen Kiefer und schließlich sein Leben vernichtete. Schur hatte Freud versprochen, ihm Sterbehilfe zu leisten, wenn die Zeit käme, und als Freud ihm irgendwann sagte, die Schmerzen seien so stark, dass es sinnlos wäre weiterzumachen, erwies Schur sich als Mann, der sein Wort hielt und ihm eine tödliche Dosis Morphium injizierte. Das war mal ein Arzt. Wo fand man heutzutage einen Dr. Schur?
    Über zwanzig Jahre lang keinen Tabak mehr und auch keine Eier, keinen Käse oder sonstige tierische Fette. Gesund und glücklich abstinent. Bis zu dieser gottverdammten Untersuchung. Jetzt war alles erlaubt: Rauchen, Eiscreme, Spareribs, Eier, Käse . . . alles. Wie konnten sie ihm schon schaden? Wie konnte ihm irgendetwas schaden? – In einem Jahr würden die Moleküle von Julius Hertzfeld zerstreut in der Erde liegen und auf ihre nächste Aufgabe warten. Und früher oder später, in wenigen Millionen Jahren, würde das ganze Sonnensystem Schutt und Asche sein.
    Als Julius spürte, wie sich der Vorhang der Verzweiflung auf ihn senkte, lenkte er sich rasch damit ab, seine Aufmerksamkeit wieder dem Telefonat mit Philip Slate zuzuwenden. Philip Therapeut? Wie was das möglich? Er hatte Philip als kalt, gleichgültig, ohne Wahrnehmung für andere in Erinnerung, und nach dem Anruf zu urteilen, hatte er sich nicht sehr verändert. Julius zog an seiner Pfeife und schüttelte in wortloser
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