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Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Titel: Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Autoren: Rafael Abalos
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Eine Leiche im Schnee

    D er dichte Nebel hinderte ihn daran, über seine eigenen Fußstapfen in der tiefen Schneedecke hinauszusehen, die sich über die Berge gelegt hatte. Deshalb bemerkte Grimpow die Leiche erst, als er darüberstolperte und hinfiel. Sofort war ihm klar, welch grausigen Fund er da gerade gemacht hatte, und er starrte dem toten Mann, der wie schlafend neben ihm lag, entsetzt ins Gesicht. Voller Angst rappelte er sich sogleich wieder auf, lief so schnell er konnte zur Hütte und stieß dabei dichte Atemwolken aus, wie ein von hungrigen Wölfen gehetztes Reh.
    »Was gibt es denn so Dringendes?«, fragte Durlib und öffnete die Tür, gegen die Grimpow wie von Sinnen gehämmert hatte.
    »Da... da drüben liegt ein toter Mann!«, antwortete Grimpow, noch völlig außer Atem, und zeigte auf den weißen Tannenwald hinter sich.
    Durlib wurde blass. »Bist du dir da ganz sicher, mein Junge?«, forschte er erschrocken nach.
    Grimpow begnügte sich mit einem Nicken, während er die beiden Kaninchen, die er an den vereisten Wasserfallen im Tal mit Pfeil und Bogen erlegt hatte, auf einen Baumstumpf fallen ließ.
    »Warte, ich muss erst mein Schwert holen«, sagte Durlib.
    Er verschwand im Inneren der Hütte, griff nach seinem Fellumhang und schnallte sich sein langes, stets am Eingang hängendes Schwert um die Hüfte.
    »Los, mein Junge, bring mich zu der Stelle, wo du den Mann gefunden hast.«
    Wie zwei Gespenster machten sich die beiden im Nebel auf die Suche nach dem Leichnam des Unbekannten.
    Grimpow schritt zügig vorneweg, den Bogen in der Linken, den Köcher voller Pfeile über der Schulter. Er war bereit, auf alles zu schießen, was sich in der Nähe regte. Sein Herz hämmerte wie wild, während er im Schnee nach seinen eigenen Fußabdrücken Ausschau hielt. Die Spuren waren so deutlich und tief, dass es keinen Zweifel gab. Er musste nur denselben Weg zwischen den Felsen und Tannen zurückgehen, dann würde der Mann, der wie schlafend im Schnee gelegen hatte, wieder vor ihm auftauchen.
    »Da ist er!«, rief Grimpow, als er die dunklen Umrisse eines in den Schnee eingesunkenen Leibes ausmachte.
    Durlib hielt neben ihm inne.
    »Du bleibst hier und kommst erst nach, wenn ich es dir sage«, wies er den Jungen an.
    Die Leiche lag auf der Seite, das Gesicht dem diesigen Himmel zugewandt, als hätte der Mann als Letztes den Wunsch verspürt, sich von den Sternen zu verabschieden. Er mochte um die sechzig sein, und nach seiner Kleidung und dem Umhang aus dickem Tuch über seinen Schultern zu schließen, war er von adliger Abstammung, daran hatte Durlib keinen Zweifel. Er ging langsam näher, kniete vor dem Edelmann nieder und schloss ihm die Lider. Das lange Haar, der weiße Bart und die Augenbrauen des Toten waren von winzigen Eisnadeln bedeckt, die Haut war blau angelaufen und die völlig ausgetrockneten Lippen umspielte ein Lächeln.
    »Er muss erfroren sein«, erklärte Durlib, nachdem er den Leichnam eingehend untersucht hatte. »Ich kann keine Wunde entdecken, die auf Gewalt hinweist. Wahrscheinlich ist er vom Pferd gestiegen und hat sich gestern Abend im Nebel verirrt. Dann ist ihm die Kälte in die Adern gekrochen und hat ihm das Blut stocken lassen. Aber ich glaube, er ist in Frieden gestorben, trotz seines unglückseligen Endes.«
    In diesem Moment sah Durlib, dass die rechte Hand des Toten zur Faust geballt war, als enthielte sie einen wertvollen Gegenstand, von dem sich der Edelmann nicht einmal in den letzten Momenten seines Lebens hatte trennen wollen. Durlib griff nach der starren, gefrorenen Hand und bog mühsam jeden einzelnen Finger auf, bis ein runder, geschliffener Stein von der Größe einer Mandel zum Vorschein kam. Er war von einer eigentümlichen, undefinierbaren Farbe, die sich veränderte, wenn man ihn hin und her drehte.
    »Was ist?«, erkundigte sich Grimpow neugierig.
    »Komm her«, forderte ihn Durlib auf.
    Als Grimpow neben ihm stand und dem Verstorbenen noch einmal ins Gesicht blickte, fand er erneut, dass der Mann aussah, als schliefe er. Vielleicht ist der Tod nur ein friedlicher, ewiger Schlaf, dachte er. Dann bemerkte er den kleinen Stein, den Durlib in der Hand hielt, und fragte: »Was ist denn das für ein Stein?«
    »Vielleicht hat der Edelmann ihn als Amulett benutzt und kurz vor seinem Tod in die Hand genommen, als er die Gewissheit hatte, dass er seine Seele Gott anvertrauen muss«, mutmaßte Durlib und warf ihn Grimpow zu. »Nimm du ihn an dich. Von nun an ist dieser
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