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Die Scanner

Die Scanner

Titel: Die Scanner
Autoren: Robert Sonntag
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und wollte ihr zum Abschied zuwinken.
    Inzwischen standen drei Pfleger bei ihr. Zwei hielten sie fest, der dritte machte ihren Arm frei. Ich wollte nicht sehen, wie sie ihr Nador spritzten. Wütend stieß ich mit beiden Händen die Tür auf.
    Der Regen hatte wieder zugenommen. Die Tropfen prasselten im Innenhof auf ein Tennisfeld. In ein Schwimmbecken. Und auf die Blätter eines hohen Plastikbaumes. Unter ihm wartete ein Mann mit langen, grauen Haaren.
    »Arne!«, rief ich und rannte zu ihm. Es war nicht Arne, merkte ich ein paar Meter vor ihm. Der Mann zog aus seiner Hosentasche eine Uhr am Plastikband, so wie es Jojo und ich immer als Buchagenten gemacht hatten. Er projizierte die Uhrzeit über die Pfütze zwischen uns.
    »Viertel nach zwölf, Herr Rob!«, sagte er.
    »Eigentlich Herr Sonntag. Robert, also kurz Rob, ist mein Vorname. Sie können mich also gerne Rob …«
    »Nicht gerade pünktlich, Herr Sonntag«, unterbrach er mich. »15 Minuten zu spät!«
    Ich konnte nicht fassen, dass er bei diesem Chaos wegen 15 Minuten einen Aufriss machte. Ich schluckte meinen Ärger runter.
    »Sind Sie verletzt?«, fragte er und tastete meine Hand ab.
    Als er beim Handballen angekommen war, schrie ich auf. Er nahm mich bei der Hand. Zog mich zum Schwimmbecken. Bückte sich, und ich ging in die Knie. Er hielt meine Hand ins Wasser, und ich fluchte vor Schmerz.
    Die Hand war für ein paar Sekunden sauber. Ein Glassplitter, halb so groß wie der Seitenbügel einer Mobril, schaute aus ihr heraus. Mir wurde übel, ich sah das kaputte Schaufenster und die Kisten voller Aroma-Tabletten vor mir. Bevor ich etwas sagen konnte, griff der Grauhaarige zu und zog den Splitter heraus.
    »Musste das jetzt sein?«, schrie ich auf.
    »Damit Sie Gutenberg nicht verletzen.«
    »Gutenberg? Wer zum Teufel ist Gutenberg?«
    Der Grauhaarige brachte mich zu einem Gartenhaus und öffnete vorsichtig die breite Tür. Wir traten ein und blieben vor einem weißen Pferd stehen. Ich hatte noch nie ein echtes Pferd gesehen.
    »Nicht Ihr Ernst, oder?«, fragte ich den Mann.
    »Sie sind doch tierlieb?«
    »Hat mich Arne Bergmann gestern schon gefragt.«
    »Können Sie reiten?«
    »Ist das ein Witz?«
    Es war keiner. Gutenberg war bereits gesattelt.
    »Johannes Gutenberg hat im 15. Jahrhundert den Buchdruck revolutioniert«, quatschte mich der alte Mann voll.
    Ich stand ratlos vor dem Pferd.
    »Herr Bergmann fand es lustig, den Hengst so zu nennen.«
    »Ich weiß nicht mal, wie ich da hochkommen soll«, sagte ich.
    »Da vorne ist die Senioren-Hilfe.« Er zeigte auf eine dreistufige Treppe auf Rollen hinter dem Pferd.
    Ich klammerte mich am Sattel und an dem fest, was ich von Gutenberg zu fassen bekam.
    »Wohin?«, fragte ich.
    Der Grauhaarige klopfte Gutenberg aufs Hinterteil, und das Tier beschleunigte fast wie ein Metro-Gleiter. »Gutenberg weiß, wohin«, hörte ich den Alten weit hinter mir rufen.
    Der Hengst galoppierte von einem Innenhof zum nächsten.
    »Anhalten«, schrie irgendjemand.
    Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich wusste nicht, wie.
    Ich schloss die Augen. Mein einziges Ziel bestand darin, nicht herunterzufallen. Ich hörte die vielen Stimmen von der Hauptstraße und verstand nur Wortfetzen.
    »… Unterga…«
    »… Hilfe …«
    »… Polizisten, da …«
    »… mein Fuuuuß …«
    »… Feuer …«
    »… Oma, ein Pferd …«
    Ich wollte das alles nicht sehen und presste mein Gesicht in das weiche Fell.
    »Weiter, Gutenberg. Bring mich hier raus«, flüsterte ich.

    Ich sprach zum ersten Mal mit einem Pferd, überhaupt mit einem Tier. Die Hygiene-Gesetze! Sie hatten die Haltung aller Tiere verboten. Meine Großeltern hatten früher einen Hund, einen Terrier gehabt.
    Sechs Monate nach Verabschiedung des Gesetzes musste er eingeschläfert werden. Wie alle Katzen, Hunde und Hamster, die ich seitdem nur noch in Animator-Projektionen im Biologie-Unterricht sah und roch.
    Die Ausnahmegenehmigung für das Pferd mussten sich die Bewohner des Seniorenheims Sonnenblick teuer erkauft haben. Meine Großeltern mütterlicherseits starben in einem Heim ohne Schwimmbecken. Ohne Tennisplatz. Und ohne Pferd.
    Es war eher ein Lager als ein Heim. Meine Eltern zahlten die Wohnung ab und konnten ihnen nicht helfen. Das klang für mich plausibel. Damals. Und so mussten Oma und Opa in eine staatliche Einrichtung mit 100er Schlafsälen.
    Ich besuchte sie nie, wir hatten jede Woche eine Mobril-Konferenz. Die beiden saßen mit ihren Mobrils auf
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