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Die Scanner

Die Scanner

Titel: Die Scanner
Autoren: Robert Sonntag
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Plastikstühlen im Aufenthaltsraum. Hinter ihnen sahen wir schneebedeckte Berge, ein grüner Gebirgsfluss flimmerte in der Abendsonne. Sie durften sich den Hintergrund auswählen, den wir statt der grauen Wand in unseren Mobrils sehen sollten. Die graue Wand flackerte nur einmal kurz auf, technische Störung. Sonst nie.
    Die Gespräche dauerten keine fünf Minuten. Meine Eltern beschränkten sich auf die Fragen nach dem Wohlbefinden und dem Essen. Obwohl es bei den Großeltern jeden Tag nur Nador gab. Drei Monate nach ihrem Einzug erhielten wir eine Mobril-Mitteilung des Ministeriums für Seniorinnen und Senioren.
    Eine tiefe Männerstimme drückte uns größte Anteilnahme aus. Meine Großeltern seien aufgrund von Altersschwäche in der Nacht verstorben. Ich kann mich nicht erinnern, ob meine Eltern geweint haben. Meine Eltern verfolgten die Beisetzung über Mobril.
    Die Mobril-Beisetzung der Großeltern väterlicherseits hatte Jahre zuvor stattgefunden. Einen Tag vor ihrem Umzug in das Seniorenlager waren sie an Herzversagen gestorben. Beide. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass zwei Leute gleichzeitig an so etwas sterben, fragte ich nicht. Das fragte keiner bei uns.
    Auf Gutenberg musste ich an all das denken. Ich hatte noch das Bild mit der alten Frau im Rollstuhl und den drei Pflegern vor Augen. Nador gegen Hunger. Nador gegen Kummer. Und Nador gegen das Chaos dieser Welt.
    Bestimmt hatten sich die Eltern meines Vaters freiwillig von diesem Irrsinn verabschiedet. Wahrscheinlich, so inkonsequent das wäre, mit einer Überdosis des Irrsinns schlechthin.
    Gutenberg wurde langsamer. Er trabte, und ich öffnete die mit Staub, Regentropfen und Tränen verklebten Augen. Ich rechnete damit, irgendwo am Rand der C-Zone zu sein, an einem geheimnisvollen Ort. In den Animator-Projektionen existierte außerhalb der C-Zone nur gefährliche Wildnis.
    Diese Animationen waren der Grund dafür, dass ich mich in den sicheren Hüllen aus Stein und Metall der Parkhallen sehr wohlfühlte. Kleine Wellen, keine Sturmfluten. Leichte Brisen, keine Orkanböen. Auf Befehl ( Animation stopp ) hörte der Sandsturm auf.
    Per Mobril konnte ich mir jederzeit den Weg durch den Dschungel anzeigen lassen. So war das. Und irgendwie hatte ich an diesem Tag auf Gutenbergs Rücken Sehnsucht nach dem genauen Gegenteil. Doch Gutenberg enttäuschte mich.
    Ich blickte auf eine zerlumpte, schwarze Zeltlandschaft. Ich erkannte sie sofort wieder. »Camp Hope 48«, hatte mir der Taxifahrer damals erklärt. Das Pferd schritt auf die Zelte zu, an den ersten löchrigen Tüchern vorbei. Ich sah ein Dutzend Leute, Kinder und Alte, wie sie um einen Haufen glühenden Abfall in einem der Zelte saßen. Das Dach war zerrissen.
    Ein paar Mädchen und Jungs krochen aus dem Zelt und folgten dem Pferd barfuß durch den Matsch. Bis Gutenberg vor einer Zeltplane anhielt, sie mit der Schnauze beiseiteschob und sich ein Maul voll Heu nahm. Keine Plastikfasern, wie ich damals dachte. Sondern echtes Heu.
    Ich rutschte vom Sattel, blieb mit dem linken Fuß im Steigbügel hängen. Ich landete mit den Händen voraus im Schlamm. Alles tat weh. Nicht von dem Sturz, sondern von dem langen Ritt. Die Kinder standen im Kreis um mich und lachten.
    Am liebsten wäre ich im Dreck liegen geblieben. Aber Gutenberg sollte mich hierherbringen. Ich musste herausfinden, wieso. Und das konnte ich nicht, wenn ich im Matsch lag. Ich musste aufstehen.
    Ich kniete mich hin, war auf Augenhöhe mit den Kindern und wollte mich an Gutenberg festhalten. Doch das Pferd war weg. Ich landete fast noch mal im Matsch. Ich rieb mir die Hände an meiner Hose ab und suchte nach einem Zeichen. Etwas, das darauf hinwies, wie alles weitergehen sollte.
    »Ist Arne Bergmann da?«, fragte ich einen Jungen, der so aussah, als ob er schon solche Fragen beantworten könnte. Konnte er aber nicht.
    »Ein Freund«, ergänzte ich.
    Ein kleines Mädchen mit verschmutztem Gesicht zeigte auf eine Leiter. Die Sprossen führten einen tiefen Hang hinab zu einem Kanal.
    »Soll ich da runter?«, fragte ich und erhielt keine Antwort.

    Unten angekommen, schaute ich auf den Kanal. Auf ihm trieben grüne Müllsäcke und bunte Plastikflaschen. Ein schmaler Weg endete bei einem alten Boot. Es war keine drei Meter lang und schwarz angestrichen. Als ich die drei weißen Buchstaben an der Seite las, musste ich grinsen: Rob.
    Ich setzte mich in das Boot. Ich löste den Knoten von einem Metallring am Ufer, zog das Seil zu mir und ließ mich
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