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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege
Autoren: Ricarda Martin
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    Prolog
    London, November 1906
    D er über Nacht aufgezogene Nebel hatte sich im Laufe des Tages verdichtet. Gemischt mit dem Rauch aus Tausenden Kaminen, der die Stadt wie eine Saugglocke bedeckte, schien er den Tag zur Nacht zu machen. Es war erst drei Uhr am Nachmittag, als die Droschke vor dem schmalen, hohen Haus in dem eleganten Stadtteil Kensington hielt, aber die Dame hatte das Gefühl, der Abend wäre bereits angebrochen. Mit fahrigen Fingern holte sie die Münzen aus ihrer Geldbörse und bezahlte den Kutscher.
    »Soll ich auf Sie warten, Mylady?«
    Mit kundigem Blick hatte der Kutscher an der eleganten Kleidung der Dame erkannt, dass sein Fahrgast eine hochgestellte Persönlichkeit war, und er witterte ein gutes Geschäft, denn eine Wartezeit wurde gut bezahlt. Die Frau verneinte jedoch.
    »Das ist nicht nötig. Danke.«
    Langsam schritt sie die Stufen zu der hellen Eingangstür hinauf. An der Wand wies ein blankpoliertes Messingschild auf den Bewohner des herrschaftlichen Hauses hin.
    Dr. Harold Martin
    Arzt für Frauenleiden
    Sie musste den Türklopfer nur ein Mal betätigen, sogleich wurde ihr geöffnet. Eine ältere Frau in der Tracht einer Krankenschwester lächelte sie freundlich an.
    »Kommen Sie herein, Mrs. Green. Der Herr Doktor lässt sich entschuldigen. Er wurde zu einem Notfall gerufen. Ein Kindchen kann es nicht abwarten, ins Leben zu treten, und meldete sich vier Wochen zu früh an. Aber Doktor Martin wird in einer Stunde zurück sein.«
    Die Dame folgte der Schwester in ein mit Samtsesseln und schweren, roten Vorhängen üppig eingerichtetes Zimmer. Dankend nahm sie das Angebot einer Tasse Tee an, um die Wartezeit zu verkürzen. Erst, als sie allein war, schlug sie den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, zurück und fuhr sich seufzend über die Stirn. Noch eine Stunde warten! Nun, das bescherte ihr vielleicht eine Galgenfrist, denn sie hatte schon drei Wochen gewartet. Bei der Erinnerung an die vergangenen Untersuchungen lief der Dame ein kalter Schauer über den Rücken, obwohl das Kaminfeuer den Raum gut beheizte. Am liebsten würde sie ihren ersten Besuch im Haus des Arztes vergessen. Die Erinnerung an diese äußerst beschämende Untersuchung hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingegraben. Manchmal träumte sie sogar von dem Augenblick, als sie sich mit entblößtem Unterleib einem Mann nicht nur zeigen, sondern sich von ihm sogar an Stellen betasten lassen musste, die sonst nur ihr Ehemann berühren durfte. Dieser tat es ausschließlich im Schutz der Dunkelheit unter der Bettdecke, während Doktor Martin sie bei hellem Tageslicht untersucht hatte. Aber ihre zweite Konsultation war beinahe noch schrecklicher gewesen, denn Doktor Martin hatte von ihr verlangt, wiederzukommen, wenn sie ihre unpässlichen Tage hatte. Noch jetzt schoss der Dame bei der Erinnerung an diese Demütigung das Blut in den Kopf. Ihr Mann ahnte nicht, was sie erleiden musste, um ihm endlich den gewünschten Sohn und Erben zu schenken. Rasch nahm sie einen Schluck Tee, der inzwischen in der Tasse erkaltet war. Da hörte sie Schritte auf dem Flur, und die Tür wurde geöffnet.
    »Mrs. Green, ich bin untröstlich, ich habe Sie warten lassen.« Ein großer, untersetzter Mann mit einer Stirnglatze kam auf sie zu. »Wenn Sie mir bitte in das Untersuchungszimmer folgen würden?«
    Ihre Beine zitterten, als sie dem Arzt in den Nebenraum folgte. Bitte, nicht wieder eine Untersuchung, betete sie im Stillen, und das Schicksal hatte ein Einsehen. Doktor Martin bat sie, Platz zu nehmen, dann setzte er sich ihr gegenüber an seinen Schreibtisch.
    »Haben Sie die Ergebnisse vorliegen, Doktor Martin?« Ihre Stimme klang selbstbewusster, als ihr zumute war.
    Der Arzt nickte und betrachtete seine Patientin. Er wusste, dass ihr Name nicht Dora Green lautete, aber dies spielte keine Rolle. Die Dame bezahlte nach der Konsultation sein hohes Honorar, ohne mit der Wimper zu zucken, immer bar. Doktor Martin besaß genügend Erfahrung, um zu erkennen, dass Mrs. Green die Ehefrau eines einflussreichen, vermögenden Mannes war, der nicht erfahren sollte, dass sie seine Hilfe in Anspruch nahm. In ganz London hatte er sich den Ruf aufgebaut, sogar in ausweglosen Situationen eine Möglichkeit zu finden, den Frauen den sehnlichsten Wunsch nach einer Schwangerschaft zu erfüllen. Als einer der ersten Ärzte in Europa hatte Doktor Martin eine Methode entwickelt, die es ermöglichte, verklebte Eierstöcke – die häufigste Ursache
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