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Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut
Autoren: Katharina Burkhardt
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Prolog
     
     
    Liebe mich am meisten,
    wenn ich es am wenigsten verdiene,
    denn dann habe ich es am nötigsten.
    (Volksmund)
     
     
     
     
     
    Der Jogger legte ein schnelles Tempo vor. Er spürte die kühle Salzluft tief in seinen Lungen, während er den Strand entlang rannte. Die Flut setzte langsam ein, in kleinen Rinnsalen suchte sich das Wasser seinen Weg durch den Sand. Es spritze unter den Schuhen des Läufers auf und hinterließ sandige Flecken auf seinem Shirt. Er spürte die Energie seines Körpers, die Kraft seiner Beine, die ihn mühelos vorwärts trugen. Ein großes Glücksgefühl erfasste ihn. Er hätte ewig so weiterlaufen mögen.
    Auf der Höhe des Badestrandes tauchte zwischen den Strandkörben eine Frau auf, die ebenfalls joggte. In bedächtigem Tempo kam sie direkt auf ihn zu. Ihre dunklen Haare hatte sie straff zu einem Zopf zusammengebunden, unter ihrer Sportkleidung zeichnete sich ein schlanker, hochgewachsener Körper ab.
    Der Mann lächelte ihr zu. Als sie sein Lächeln erwiderte, sah er, wie schön sie war. Er drehte sich noch einmal nach ihr um. Zu seiner Freude schaute sie ihm ebenfalls hinterher. Da lachte er, breit und spitzbübisch.
     
    Sie sah ihn bei den Pferden wieder. Der große Mann mit den dunklen Haaren fiel ihr sofort auf. Er war in Begleitung einer Frau, die mit starkem Akzent sprach. Als sie auf dem Weg durchs Dorf Richtung Strand davon ritten, blieb er am Hof zurück und machte Fotos.
     
    Heiterkeit umgab sie. Und Zufriedenheit. Sie saßen zusammen und lachten, eine Gruppe von Menschen, die sich zufällig im Urlaub begegneten und die gemeinsame Zeit genossen, als gäbe es kein Davor und Danach. In wenigen Tagen würden sie alle wieder in ihr Alltagsleben zurückkehren, in dem sie nichts miteinander verband. Und doch würden sie ein wenig von diesem Urlaub für immer behalten, winzige Bilder und Bruchstücke von Empfindungen. Erinnerungen an Gesichter, an ein Lachen, an gemeinsame Ausritte und gemeinsames Essen. Manche der Erinnerungen würden erst Jahre später wieder auftauchen und an Bedeutung gewinnen.
    Dann, wenn das eigene Leben sich weiter gedreht hatte, wenn diese Reise in einem ganz neuen Licht erschien.
     
     
     
    ***
     
    Als sie ihn verließ, nahm sie fast sein ganzes Leben mit: seine Hoffnungen und Träume, seine Sehnsüchte, sein Glück, seine Liebe. Seine Zukunft und seine Vergangenheit. Seinen Körper. Vor allem aber nahm sie sein Herz mit.
     
    Was zurückblieb, war nicht Leben und nicht Tod. Es war ein seltsames, finsteres Nichts, das atmete ohne Herzschlag, weinte ohne Tränen, lebte, ohne zu empfinden.

1
     
    Mia sah die Anzeige eher zufällig. Auf der Suche nach dem Kinoprogramm durchstöberte sie die Webseiten des Szene-Magazins und blieb aus Neugier bei den Kontaktanzeigen hängen. Da suchte ein Paar eine Gespielin für heiße Stunden zu dritt. Ein Mann wünschte sich eine Partnerin für eine fesselnde Beziehung. Ein Jüngelchen wollte von einer reifen Frau entjungfert werden.
    Mia fragte sich, was für Menschen solche Anzeigen aufgaben. Waren das alles Verrückte? Oder moderne Abenteurer, auf der Suche nach einer Erfüllung, die sie sonst nirgends fanden?
    »Blow-Job zu vergeben« , stand irgendwo dazwischen. »Sie blasen. Ich genieße und zahle. Mehr nicht.«
    Mehr nicht? Was sollte das heißen – mehr nicht? Gab es nicht mehr als Blasen? Durfte die Frau nicht genießen? Wie stellte dieser Kerl sich das vor? Ich genieße und zahle.
    Lächerlich, was Männer sich einbildeten!
    Diese ganzen seltsamen Wünsche irritierten Mia. Sie hatte noch nie das Verlangen verspürt, sich mit einem wildfremden Mann zum Sex zu verabreden. Aber sie hatte das auch nicht nötig. Sie war glücklich verheiratet.
    Gewesen , korrigierte sie in Gedanken und bemühte sich, den feinen Stich in ihrer Brust zu ignorieren. Sie war glücklich verheiratet gewesen - bis sich ihre Ehe innerhalb einer einzigen Minute als Lüge entpuppte. Seitdem war nichts mehr in ihrem Leben so wie früher. Trotzdem war Mia längst nicht so verzweifelt, um sich auf eine dieser Anzeigen zu melden. Sie schüttelte den Kopf und klickte zurück zum Kinoprogramm. Aber es lief kein Film, der sie interessierte.
    Blow-Job zu vergeben - immer wieder kam ihr der Satz in den Sinn. Seltsam. Was war daran so faszinierend?
     
    Sie zog sich ihren Mantel an und ging spazieren. Ein wintergrauer Himmel hing über Hamburg, der Ostwind war eisig. Das Wasser der Elbe schlug gegen die Steine an der Uferböschung.
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