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Ellin

Ellin

Titel: Ellin
Autoren: Christine Millman
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    D er greise Mann stöhnte leise, während Ellin eine scharfriechende Kräutersalbe auf seinen Schultern verteilte. Josts Stimme war brüchig, vom Alter gezeichnet, genau wie sein Leib. Mit dem verkrümmten Rücken und dem zerfurchten, wettergegerbten Gesicht erinnerte er Ellin an einen morschen Baum, der splitterte und zerfiel, bis nichts mehr von ihm übrig blieb als ein faulender Stumpf.
    Bis auf Josts Stöhnen und dem Regen, der schon seit Tagen unablässig gegen das Fenster trommelte, war es still in der Kammer. Von Zeit zu Zeit drang ein eisiger Hauch durch die Mauerritzen, fuhr in das Feuer und blies winzige Funken an die Decke, die dann als Ascheflocken auf den Steinboden rieselten.
    Ellin warf einen prüfenden Blick hinaus. Der Himmel war düster und grau. Wolkenberge türmten sich über dem Hammerfels und verdunkelten die Sonnen. Die Zeit des Langen Regens begann früh in diesem Sternenlauf. Viel zu früh.
    »Aah«, Josts Schmerzenslaut schreckte sie aus ihren Gedanken.
    »Verzeihung, ich war unachtsam«, sagte sie entschuldigend und rieb vorsichtig über sein gerötetes Schultergelenk. Während des Langen Regens würde der alte Mann nicht der Einzige bleiben, der in ihre Kammer kam, um sich heilende Salben auf schmerzende und entzündete Glieder reiben oder einen Trunk gegen andauernde Müdigkeit, Halsweh oder Husten verabreichen zu lassen. Schon jetzt hatte Heiler Mathýs alle Hände voll zu tun und bat sie immer wieder um Hilfe.
    Mit einem Seufzen beendete sie die Behandlung und wischte ihre Hände an einem sauberen Leintuch ab. »Ich bin fertig, Jost. Das sollte dir eine Weile Linderung verschaffen.«
    Der alte Mann straffte sich und quälte sich von dem Schemel. Sie griff unter seine Armbeuge, um ihn zu stützen.
    »Ich danke dir.« Er ächzte laut, während er langsam auf die dürren Beine kam. »Meine Glieder wollen einfach nicht mehr so, wie ich es will.«
    Ellin schenkte ihm ein Lächeln. »Wenn es schlimmer wird, dann geh zu Heiler Mathýs, er wird dir einen Trunk gegen die Schmerzen geben, damit du ruhen kannst.«
    Jost schüttelte den Kopf. »Ach Ellin, meine Tage sind gezählt. Ich möchte sie trotz meiner Schmerzen lieber im Wachen verbringen.«
    Ellin nickte verständnisvoll und führte ihn aus der Kammer. Anschließend wusch sie ihre Hände in der flachen Schale, um sie von dem Geruch der Salbe zu befreien. Ein weiterer Blick aus dem schmalen Fenster zeigte ihr, dass das Zwielicht des Tages langsam von der nächtlichen Schwärze verschlungen wurde. Höchste Zeit, in die Gemächer ihres Herrn zu eilen und ihre Arbeit zu verrichten, bevor sie die Rute zu spüren bekommen würde. Ihr Herr, Lord Wolfhard, war ein hartherziger und unerbittlicher Mann. Weder duldete er Fehler noch Schwäche und ahndete diese mit an Grausamkeit grenzender Strenge. Doch in letzter Zeit hatte sich zu dem Knoten in ihrem Bauch, der immer dann entstand, wenn es an der Zeit war, in Lord Wolfhards Gemächer zu gehen, auch eine unangenehme Beklommenheit gesellt. Vor wenigen Tagen erst hatte er sie mit der flachen Hand geschlagen anstatt mit der Rute, was höchst merkwürdig war. Normalerweise ließ sich ein herrschaftlicher Mann nicht dazu herab, das Gesinde mit der Hand zu strafen. Zudem beobachtete er sie bei allem, was sie tat. Selbst wenn sie ihm den Rücken zukehrte, spürte sie seine Blicke, die ihr in jeden Winkel der Kammer zu folgen schienen und ihr kalte Schauer über den Rücken jagten. Natürlich war sie weder einfältig noch naiv. Sie wusste genau, was zwischen Mann und Frau geschah. Und sie wusste auch, dass Lord Wolfhard keine Gefährtin hatte, sondern mit mannigfaltigen Liebschaften vorliebnahm. Fast schien es so, als hätte er gar kein Interesse daran, eine Gefährtin zu wählen, als gefiele es ihm, sein Bett immer wieder mit einer anderen Frau zu teilen.
    Ellin hatte nie erlebt, wie es war, wenn ein Mann eine Frau begehrte, doch die Art wie Lord Wolfhard sie musterte, wie eine edle Stute oder einen saftigen Braten, vermittelte ihr eine ziemlich genaue Vorstellung davon.
    Eilig zog sie den braunen Kittel, das grob gewebte Hemd und die Strümpfe aus, und warf sich eines der cremefarbenen, knöchellangen Dienstkleider über. Gewissenhaft schnürte sie den bestickten Gürtel und die Bänder am Ausschnitt zu und glättete den Rock mit ihren Händen, denn auch fleckige oder nachlässig angezogene Kleidung erzürnte Lord Wolfhard.
    Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel aus poliertem Vanadium zeigte ihr,
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