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Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Titel: Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Autoren: Dan Millman
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stummen Hallen meines Inneren zu hören waren. In ihrem sanften, manchmal etwas singenden Tonfall sagte Mama Chia zu mir:
    Steh nicht weinend an meinem Grab.
Ich schlafe nicht da; schau nicht hinab!
Ich bin die tausend Winde, die wehn.
Ich bin der diamant’ne Schimmer auf dem Schnee.
Ich bin auf reifem Korn der Sonnenstrahl;
Ich bin der sanfte Herbstregen im Tal.
Steh nicht an meinem Grab in Kummer und Not.
Ich liege nicht da. Ich bin nicht tot.
    Als ich diese Worte hörte, ging mir das Herz auf, und mein Bewußtsein verlagerte sich mit einem Mal an einen Ort, wo ich noch nie
gewesen war. Ich sah Sterblichkeit und Tod im großen Kreislauf des Lebens. Ein glühendes Mitleid für alle Lebewesen überwältigte mich, und ich verlor das Bewußtsein. Ich versank in den tiefsten Tiefen der Verzweiflung und schwang mich gleichzeitig zu den höchsten Höhen der Glückseligkeit empor – diese beiden Gefühle gingen in meinem Inneren mit Lichtgeschwindigkeit ineinander über.
    Dann war ich plötzlich gar nicht mehr auf Molokai, sondern stand in dem winzig kleinen Zimmer, das ich schon damals in meiner Vision unter dem Wasserfall gesehen hatte. Scharfe, beißende Gerüche von Abwässern und Verwesung hingen in der Luft, teilweise überlagert vom Duft brennender Räucherstäbchen. Ich sah eine Nonne, die sich um einen bettlägerigen Leprakranken kümmerte. Im Nu verwandelte ich mich in diese Nonne und fühlte das schwere Gewand, das sie trotz der glühenden Hitze trug. Ich streckte die Hand aus und rieb das Gesicht des armen Mannes mit einer Salbe ein. Mein Herz war vollkommen offen für die Liebe, den Schmerz — für alles. Und in dem entstellten Gesicht des Leprakranken erkannte ich die Gesichter aller Menschen, die ich je geliebt hatte.
    Im nächsten Augenblick stand ich in der Rue de Pigalle und sah, wie ein Gendarm einem kranken, betrunkenen Mann in einen Polizeikrankenwagen hineinhalf. Dann verwandelte ich mich in diesen Polizisten. Ich roch den fauligen Atem des Betrunkenen. Ein Licht blitzte vor mir auf, und ich sah den Trinker als kleinen Jungen, zitternd in einer Ecke zusammengekauert, während sein eigener Vater in betrunkenem Zorn auf ihn einschlug. Ich spürte seinen Schmerz, seine Angst – alles. Ich sah den Betrunkenen durch die Augen des Gendarmen und trug ihn behutsam zu dem wartenden Polizeiwagen.
    Im nächsten Augenblick blickte ich wie durch einen Spiegel auf einen Teenager, der in seinem Schlafzimmer in einem reichen Vorort von Los Angeles lag und Kokain schnupfte. Ich erkannte seine Schuldgefühle, seine Reue, seinen Haß auf sich selbst. Dann empfand ich nur noch Mitleid.
    Als nächstes war ich in Afrika und starrte auf einen alten Mann, der sich nur noch mühsam bewegen konnte. Er versuchte, einem
sterbenden Baby Wasser einzuflößen. Ich schrie laut auf, und meine Stimme hallte an jenem zeitlosen Ort wider, an dem ich stand. Ich weinte um das Baby, um den alten Schwarzen, um den Teenager, um den Betrunkenen, um die Nonne, um den Leprakranken. Dieses Baby war mein Kind, diese Leute waren meine Familie.
    Ich wollte so gern helfen und jeder leidenden Seele das Leben erleichtern. Aber ich wußte, daß ich von dem Punkt aus, wo ich mich im Augenblick befand, nur eines tun konnte: lieben und Verständnis haben, auf die Weisheit des Universums vertrauen, tun, was in meiner Macht stand, und dann einfach loslassen.
    Als ich das alles sah, spürte ich, wie eine Energiewelle in mir aufstieg wie eine Explosion, und ich wurde durch mein Herz in die Höhe geschleudert – in einen Zustand vollkommener Einfühlung in das Leben selbst.
    Mein Körper war durchsichtig geworden und strahlte alle Farben des Spektrums aus. Unten war ich rot, nach oben hin ging dieses Rot allmählich in Orange, Gelb, Grün und schließlich Gold über. Dann waren meine inneren Augen von einem strahlenden Blau umgeben und fühlten sich allmählich zum Zentrum meiner Stirn emporgezogen, wo die Farbe in Indigoblau und Violett überging …
    Jenseits der Grenzen der persönlichen Identität und keinem physischen Körper mehr verhaftet, schwebte ich an jenem Ort dahin, wo Geist und Fleisch sich begegnen. Ich befand mich auf einem Aussichtspunkt hoch über dem Planeten, den wir Erde nennen. Dann wich die Erde allmählich zurück und ging in der unermeßlichen Weite des Kosmos unter. Und schließlich war selbst das Sonnensystem und dann sogar die Milchstraße nur noch ein Fleck, immer kleiner werdend und zum Schluß gar nicht mehr
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