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Spuk im Netz

Spuk im Netz

Titel: Spuk im Netz
Autoren: Astrid Vollenbruch
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Miss Bennett sieht Gespenster
    »Natürlich«, murmelte Miss Bennett, »bin ich völlig verrückt.«
    Ein solcher Ausspruch war für die Leiterin der Bücherei von Rocky Beach eher ungewöhnlich. Miss Bennett war sachlich, tüchtig und kompetent, und niemand wäre auf die Idee gekommen, ihr irgendwelche Merkwürdigkeiten zu unterstellen. Auch sie selbst hielt sich normalerweise für – nun ja, normal.
    Doch aller Normalität zum Trotz war sie zurzeit ganz bestimmt verrückt. Denn statt hinter ihren beiden Helferinnen Becky und Karen die Tür abzuschließen, noch ein paar Bücher einzuräumen und dann nach Hause zu fahren und ihre Katze zu füttern, hatte sie sich um sieben Uhr an den Computer gesetzt und war im Internet auf Gespensterjagd gegangen.
    Jetzt war es fast halb elf. Seit Stunden war es totenstill in der Bücherei, nur das Summen des Computers und das gelegentliche Klicken der Maus waren zu hören. Bis auf eine einzige Schreibtischlampe lag der große Raum mit den vielen Bücherregalen im Dunkeln. Ab und zu fuhr draußen ein Auto vorbei.
    Eigentlich fand Miss Bennett Gespensterjagden im Internet eher langweilig. Man suchte zunächst nach Spukhäusern, in denen eine Webcam aufgebaut war, und wenn man eins gefunden hatte, holte man sich einen Kaffee und verbrachte die nächsten Stunden damit, auf den Bildschirm zu starren und alle paar Sekunden die Taste »Bild aktualisieren« zu drücken. Miss Bennett konnte sich mühelos zehn verschiedene Beschäftigungen vorstellen, mit denen sie ihre Abende lieber verbracht hätte. Trotzdem saß sie seit Wochen fast jeden Abend noch lange nach Dienstschluss in der Bücherei, trank Kaffee ... und wartete auf die Einlösung eines Versprechens.
    Die Webcam im Inneren des Spukhauses zeigte einen großen Raum mit hohen Bücherregalen an den Wänden. Auf dem Boden lag ein Teppich mit kunstvoll verschlungenen Mustern. Möbel gab es nicht. Die Kamera hing offenbar in etwa vier Meter Höhe und zeigte zwei Ecken, den Großteil des Raumes und eine offen stehende Tür in der gegenüberliegenden Wand.
    Von rechts kam ein gelblicher Lichtschein, der gerade ausreichte, um zu zeigen, dass sich in diesem Raum absolut nichts tat. Niemand ging hindurch, niemand staubsaugte den Teppich oder verrichtete sonstige Arbeiten, die man abends erledigt – und niemand spukte; ganz gleich, wie oft Miss Bennett auf »Bild aktualisieren« klickte.
    Sie hatte nichts anderes erwartet. Man musste schon sehr dumm und leichtgläubig sein, um zu glauben, dass es sich bei der verschwommenen weißen Gestalt, die auf einigen »Beweisfotos« dieser Webseite abgebildet war, um einen echten Geist handelte, der in diesem alten Haus spukte. Miss Bennett war weder dumm noch leichtgläubig, und betrügen ließ sie sich schon gar nicht. Trotzdem saß sie hier Abend für Abend und wartete auf das Erscheinen der Weißen Frau.
    Natürlich hatte sie nicht sofort die erstbeste »Gespensterseite« ausgewählt, die nach Eingabe ihrer Suchbegriffe »Webcam« und »Weiße Frau« aufgetaucht war. Bei vielen Seiten sah sie auf den ersten Blick, dass es sich um Fälschungen handelte. Andere Spukhäuser lagen nicht in Kalifornien, sondern Hunderte oder Tausende von Meilen entfernt und kamen deshalb nicht infrage. Trotzdem war Miss Bennett aus rein wissenschaftlichem Interesse vielen Hinweisen gefolgt, auch wenn sie mit »ihrem« Geist überhaupt nichts zu tun hatten. Eine ihr völlig fremde Welt hatte sich da aufgetan: mit Hexenzirkeln, Aberglauben, verwackelten Beweisfotos – warum konnte eigentlich kein Geisterjäger der Welt eine Webcam ordentlich einstellen? –, Täuschung, Betrug und einem Gefühl, das sie nur als ›Spaß an der Angst‹ beschreiben konnte. Vielen Menschen schien es geradezu ein Bedürfnis zu sein, sich vor etwas Übernatürlichem zu fürchten. So etwas lag Miss Bennett fern. Aber sie bildete sich gern weiter, und so wusste sie jetzt alles über Gespenster und Sagengestalten, Irrlichter, Poltergeister und Tote, die keine Ruhe fanden. Sie hatte sogar Tonbandaufzeichnungen gelauscht, auf denen angeblich die Stimmen von Toten zu hören waren, und herausgefunden, dass diese Stimmen genauso wenig zu sagen hatten wie die der Lebenden: »Ja, der Paul kann dich hören« und »Ich kann mich nicht erinnern« waren so ziemlich die häufigsten Sätze, die sie inmitten des Tonbandrauschens zu hören bekommen hatte. Nicht sehr gruselig.
    Kopfschüttelnd war sie schließlich wieder zu ihrer eigentlichen Suche nach der
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