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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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er den Riegel zurück, trat hinaus und zog die Tür hinter sich zu, dann lief er los. Kalte Luft schnitt in seine Lungen, aber er achtete nicht darauf. Er rannte immer weiter, so schnell er konnte, gejagt von der Angst, Grimaud könnte ihm nachkommen. Ruben zweifelte nicht, dass er ihn ohne weitere Umstände erschlagen würde. Der Bauer betrachtete Ruben als seinen Besitz, seit die Gemeinde ihn vor sechs Jahren in seine Obhut gegeben hatte. Damals, als Pater Guillaume gestorben war und der neue Pfarrer Ruben nicht behalten wollte. Sechs Jahre Schläge und Essensreste, Tritte und Hohn. Doch jetzt würde sich alles ändern!
    Bevor er ging, hatte er aber noch etwas zu erledigen. Das Mondlicht reichte aus, um ihn zu seinem Versteck zu führen, das etwa fünfhundert Schritte vom Bauernhaus entfernt in einem Wäldchen lag. Ruben drückte sich durch das Gebüsch bis zu der Felsspalte, in der seine Tiere hausten. Zurzeit war eine Dohle die einzi ge Bewohnerin. Ruben hatte sie vor zwei Wochen vor Grimauds Hofkatze gerettet. Schon häufiger hatte er sich um verletzte Kaninchen, Schlangen und einmal sogar um ein Fuchsjunges, das Schrotkugeln abbekommen hatte, gekümmert, und die Tiere hatten sich unter seiner Fürsorge unglaublich rasch erholt. Er hing sehr an ihnen, denn dadurch hatte er das Gefühl, dass ihn jemand brauchte.
    Die Dohle hörte ihn kommen und krächzte. Ruben kniete sich hin, entfernte das Gitter aus Weinreben, das er in die Spalte geklemmt hatte, um den Vogel vor Mardern und Füchsen zu schützen, und holte das Tier heraus. Es hielt ganz still und drehte nur den Kopf hin und her. Sanft strich Ruben ihm über den gebrochenen Flügel, und er spürte, dass die dünnen Knochen wieder richtig zusammengewachsen waren.
    »Mach’s gut«, flüsterte er, stand auf und warf den Vogel in die Luft. Zwischen den Baumwipfeln, gegen den Sternenhimmel sah er, wie er seine Flügel ausbreitete, noch einmal krächzte wie zum Gruß, und davonflog.
    Ruben kroch durch das Dickicht zurück und richtete sich auf. Nun hielt ihn nichts mehr an diesem Ort. Er lief los und hatte schon bald das Wäldchen hinter sich gelassen. An der nächsten Wegkreuzung schlug er die Richtung zum Dorf ein. Kurz darauf erreichte er Vaumort, überquerte den schlammigen Kirchplatz und blieb vor dem »Trois Chênes« stehen, aus dessen Fenstern trübes Licht auf das Pflaster rann. Rubens Brust hob und senkte sich heftig, ob vom schnellen Laufen oder vor Aufregung, wusste er nicht. Als er sich beruhigt hatte, zog er die Tür auf und trat ein.
    Die Luft im Gastraum war dick von Rauch und Fett und Alkohol. Die meisten Gäste waren betrunken, krakeelten herum und soffen sauren Wein. Nur der vollständig in schwarz gekleidete Mann saß ruhig an einem Ecktisch ganz nah an der Tür. Neben ihm kauerten mehrere Jungen. Ruben kannte keinen von ihnen, sie stammten wohl aus den umliegenden Dörfern. Der Schwarze sammelte sie ein wie Fallobst.
    Nur seine Verzweiflung gab Ruben den Mut, sich dem Tisch zu nähern. Er machte eine ungelenke Verbeugung, um die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen.
    »Was willst du?« Der Schwarze nahm einen Schluck von seinem Wein und verzog den Mund, als wäre er Besseres gewohnt.
    »Mitkommen will ich«, stieß Ruben hervor. Auf einmal war er ganz ruhig und er hielt dem Blick des Mannes stand, dessen rotgeäderte Äuglein ihn musterten.
    »Wozu taugst du denn?«, fragte er.
    »Zu allem.« Ruben schob das Kinn vor, als der Mann lachte.
    »Klein bist du ja«, fuhr der Schwarzgekleidete fort. »Und mager genug auch. Wie alt?«
    »Dreizehn, Herr«, log Ruben. Er wurde in vier Monaten fünfzehn.
    »Nicht, dass du plötzlich in die Höhe schießt. Normalerweise beschäftige ich keine Jungen, die älter als elf sind.«
    »Ich bin seit zwei Jahren kaum gewachsen«, versicherte Ruben hastig, obwohl er nicht verstand, weshalb der Mann statt großer und kräftiger Jungen kleine und magere suchte. Wenn der Schwarze ihn nicht mitnahm, war alles verloren. Zurück zu Grimaud ging er nicht, lieber verhungerte er.
    Der Mann betrachtete ihn noch einige Augenblicke, dann streckte er ihm die Hand hin.
    »Na gut, du bekommst die Chance, dein Glück zu machen. Prudhomme ist ein gutmütiger Kerl.«
    »Danke, Monsieur.« Mehr brachte Ruben nicht heraus. Er setzte sich zu den anderen Jungen auf die Bank, die ihm schweigend zunickten und beiseite rutschten. Sie waren jünger als er, der Kleinste mochte erst sechs oder sieben Jahre alt sein. Alle waren mager wie er
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