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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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zusammenzufalten, und Julie lachte ihm höhnisch nach. Als er weg war, schnaubte sie und wandte sich wieder ihrem Teller zu.
    Nur hatte sie auf einmal den Appetit verloren.
    Ruben stürmte den Kreuzgang entlang und verlangsamte seine Schritte erst, als er Leda erblickte. Sie wartete an den drei Torbögen in der Außenmauer des Kreuzgangs, die ins Nichts führten, als wäre das dazugehörige Gebäude weggebrochen. Leda stand gefährlich nahe am Abgrund und starrte auf das Wasser hinaus, das tief unter ihnen von der aufgehenden Sonne golden überstrahlt wurde. Als sie ihn kommen hörte, wandte sie ihm das Gesicht zu. Ihre Augen wurden groß, als sie die Flügel bemerkte.
    »Bist du etwa …?«
    »Ja, bin ich«, erwiderte Ruben schroff. »Und ich habe nicht darum gebeten.« Dann wurde ihm bewusst, dass er nicht auf Leda wütend war, sondern auf Julie.
    »Hast du deinen Bruder gefunden?«, fragte er sanfter und stellte sich neben sie.
    Leda nickte. »Aison war im Verlies. Jetzt schläft er in meiner Kammer. Plomion kümmert sich um die anderen gefangenen Seraphim.«
    Sie schwiegen einige Zeit, dann fragte Leda: »Wie wird nun alles weitergehen?«
    Ruben blickte aufs Meer hinaus, als suchte er dort die Antwort. »Ich weiß noch nicht. Im Moment glaube ich nur, dass ich es nicht schaffe.« Leda gegenüber konnte er ehrlich sein, sie würde seine Schwäche nicht gegen ihn verwenden. »Ich bin nicht sicher, ob ich dieser Andipalos sein will. Wenn du’s genau wissen willst: Ich hab die Hosen voll.«
    Leda lachte. Ganz selbstverständlich griff sie nach seiner Hand. »Weißt du, was mir hilft, wenn ich mich schlecht fühle?«
    »Was?«
    »Fliegen!«
    Unwillkürlich trat Ruben einen Schritt von der Kante zurück.
    »Wozu hast du schließlich Flügel?«, fragte Leda, aber Ruben schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß doch gar nicht, wie das geht.«
    »Musst du auch nicht. Man stürzt nur ab, wenn man zu viel nachdenkt. Es ist herrlich da draußen, du wirst sehen. Früher oder später musst du die Flügel sowieso ausprobieren.«
    Ruben räusperte sich. Er wollte vor Leda auf keinen Fall als Feigling dastehen. Ich bin der Andipalos, ermahnte er sich, aber sein Herz klopfte trotzdem heftig. »Also gut.« Er machte einen Schritt nach vorne, sodass seine Schuhspitzen über den Mauerrand hinausragten.
    »Wirf dich einfach nach vorne und breite die Flügel aus«, sagte Leda. »Die Luft trägt dich.«
    »Wenn du es sagst«, murmelte er und fragte sich, wie ein Unsterblicher sich fühlen mochte, wenn ihm jeder Knochen im Leib gebrochen war.
    »Jetzt!«
    Ohne nachzudenken, stürzte Ruben sich ins Nichts. Und fiel. Er sah die Felsen unterhalb der Mauern rasend schnell auf sich zukommen, doch dann breitete er seine Schwingen aus, fühlte, wie der Wind darunterfuhr und ihn emporhob. Er zog über dem goldenen Wasser dahin, und aus seiner Kehle drang ein wilder Freudenschrei.
    Er flog!
    Probehalber schlug er mit den Flügeln und schoss davon. Jetzt sah er neben sich einen Schemen. Es war Leda in Adlergestalt, beinahe ebenso groß wie er selbst. Ihre Flügelspitzen berührten sich fast, als sie nebeneinander dahinglitten, die Insel und das Festland hinter sich ließen, vor sich nur die Weite des Horizonts.
    Ruben hatte keine Angst, die Luft trug ihn, und instinktiv wusste er, wie er ihre Strömungen benutzen konnte. Er ließ sich in einen senkrechten Sturzflug fallen, der ihm den Atem nahm und berührte beinahe die Wellen, bevor er sich wieder aufschwang und der aufgehenden Sonne entgegenflog.
    Julie wartete, bis sie sicher war, Ruben nicht mehr zu begegnen, bevor sie die Küche verließ. Sie wusste nicht recht, wohin sie wollte, und wanderte eine Weile durch die düsteren, überwiegend fensterlosen Gänge der Abtei, bevor sie unvermutet auf einer Terrasse herauskam. Sie trat an die Balustrade und atmete den Geruch des Meeres ein. Weit unten krachten Brecher an die Bastionen, deren Rauschen bis zu ihr heraufdrang. Der nimmermüde Wind zerrte an ihren Kleidern und sie genoss es, sich ihm entgegenzustemmen.
    Weshalb muss alles so schwierig sein?
    »Weil es niemals einfach ist«, sagte Rheas Stimme hinter ihr.
    Julie drehte sich um und hielt sich mit der Hand die Haare aus dem Gesicht. Hinter Rhea stand Fédéric, der die Achseln zuckte, als wollte er sagen, er habe sie nicht vom Aufstehen abhalten können.
    »Wie geht es Euch?«, fragte Julie spröde.
    Rhea trat neben sie und sah aufs Meer hinaus. »Ich fürchte mich«, sagte sie. »Denn ich bin
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