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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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bedächtig schwungvolle Linien mit einem Bleistift zog. Neugierig schlich Julie sich heran und sah ihm über die Schulter. Die halb fertige Zeichnung zeigte keine Taschenuhr, sondern ein eigenartiges Gerät, das einem runden Blasinstrument ähnelte.
    »Was ist das, Papa?«
    Jacques Lagarde fuhr herum. Sein Gesicht war verzerrt, dann erkannte er Julie und blies erleichtert die Backen auf. »Du wirst mich eines Tages zu Tode erschrecken mit deiner Schleicherei. Du bist leiser als deine Katze, mein Mädchen.«
    Wie auf ihr Stichwort sprang Songe auf den Arbeitstisch, überquerte die Papiere und hüpfte auf ein Regalbrett, wo sie zwischen kaputten Uhrgehäusen und Werkzeug ihren Stammplatz einnahm.
    »Deine Katze glaubt wohl, das Haus gehörte ihr«, brummte Jacques Lagarde.
    Julie lächelte, ließ sich aber nicht ablenken. »Woran arbeitest du gerade?«
    »Nur eine Spielerei für einen gelangweilten Marquis«, antwortete ihr Vater und zog ein leeres Blatt über die Zeichnung. »Sollst du mich zum Essen rufen?«
    Julie nickte. »Papa, darf ich dich etwas fragen?« Sie setzte sich auf den Hocker neben dem Arbeitstisch.
    »Fragen darfst du alles, aber ich kann nicht versprechen, dass die Antwort dich zufriedenstellen wird.« Lachfalten bildeten einen Strahlenkranz um die Augen ihres Vaters.
    Julie erzählte ihm von den Ereignissen auf dem Kirchplatz, sagte aber nichts über das blaue Licht.
    »Weshalb duldet der König, dass es dem Volk so schlecht geht?«, fragte sie schließlich.
    Jacques schwieg eine Weile und runzelte die Stirn. »Du bist ein kluges Mädchen, und du wirst langsam erwachsen.«
    Julie beobachtete ihren Vater genau, um sich keines seiner Worte entgehen zu lassen.
    »Der König ist ein einfacher Mann. Wäre er nicht hochgeboren, er wäre ein hervorragender Handwerker geworden. Er besitzt sogar eine eigene Schlosserwerkstatt, in der er mehr Zeit verbringt als bei Sitzungen. Er ist nicht böse oder gleichgültig, aber er ist schwach. So schwach, dass er auf seine Berater hört. Und die benutzen ihn für ihre Ziele.«
    »Welche Ziele sind das?«, fragte Julie und knabberte an ihrer Unterlippe herum.
    »Macht, mein Sternchen. Es geht immer um Macht. Darum reden sie Louis ein, er müsse hart durchgreifen, um das Volk ein für alle Mal auf seinen Platz zu verweisen. Die Nationalversammlung hat hingegen geschworen, nicht zu ruhen, bis Frankreich eine Verfassung hat. Ich befürchte, Louis wird die Armee vor den Toren von Paris zusammenziehen, wie seine Berater es wünschen. Wenn es so weit kommt, wird Frankreichs Herrscher in seiner Verblendung das Blut seiner Untertanen vergießen.«
    »Woher weißt du so viel über den König?«
    Jacques rieb sich die Nase, die so prominent aus seinem kantigen Gesicht ragte, und seufzte. »Bevor ich deine Mutter traf und du zu uns kamst, habe ich für den König gearbeitet. Ich lebte in Versailles und hatte eine große Werkstatt mit vielen Helfern. Wir arbeiteten nur mit den kostbarsten Materialien, mit Gold, Silber, Edelsteinen, und ich erdachte die raffiniertesten Uhren und Spielwerke, um Seine Majestät und sein Gefolge in Erstaunen zu versetzen. Oft besuchte der König mich in der Werkstatt, aber wir sprachen nicht nur über die Uhrmacherei, sondern über alle möglichen Dinge.« Julies Vater schwieg kurz, und als er weitersprach, klang seine Stimme traurig. »Ich dachte, er und ich wären Freunde, und darum hielt ich mich mit meinen Ansichten nicht zurück. Eines Tages ging ich wohl zu weit, denn ehe ich michs versah, fand ich mich in der Bastille wieder. Zwei Jahre saß ich dort ohne Werkzeug und Material. Mein einziger Zeitvertreib war, mit den Wachen Karten zu spielen. Die langweiligsten zwei Jahre meines Lebens.« Nun lächelte er wieder. »Nachdem man mich freigelassen hatte, ließ ich mich hier in St. Marcel nieder. Ich wollte meine Ruhe, eine Familie gründen und an meinen Uhren arbeiten. So halte ich es bis heute. Hier komme ich nicht in Gefahr, mir den Mund zu verbrennen, weil ich ihn nicht halten kann.«
    Obwohl es einleuchtend klang, was ihr Vater erzählte, war Julie noch nicht zufrieden.
    »Weswegen hat der König dich einsperren lassen?«
    Jacques räusperte sich und sagte: »Ich las damals sehr viel.«
    Julie lächelte, denn daran hatte sich nichts geändert. Wenn ihr Vater nicht gerade an einer Uhr tüftelte, saß er über einem Buch.
    »Jedenfalls hatte ich sehr fortschrittliche Ideen. Ich war ein glühender Anhänger der Enzyklopädisten und überzeugt
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