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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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selbst, mit schmutzigen, müden Gesichtern.
    Verstohlen beobachtete Ruben Monsieur Prudhomme. Er sah aus wie ein reicher Viehhändler, mit gewölbter Weste und glatt rasiertem Kinn. Aus der Hosentasche hing ihm eine goldene Uhrkette. Vor vier Tagen hatte Ruben auf dem Markt gehört, dass ein Mann über die Dörfer zöge und Knaben suche, die er nach Paris mitnehme. Seitdem hatte er seine Flucht geplant, denn eine solche Möglichkeit würde sich kein zweites Mal bieten. Und er hatte sie genutzt!
    Ruben lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Nie wieder würde Grimaud ihn schlagen, nie wieder die Bäuerin über seine unbekannte Mutter herziehen. »Wird schon eine rechte Hure gewesen sein«, hatte sie immer gehöhnt, »so eilig, wie sie’s gehabt hat, dich loszuwerden.« Und Ruben hatte mit den Zähnen geknirscht, kurz davor, sich auf die Frau zu stürzen, die ihre Litanei mit Klagen darüber fortsetzte, dass die Gemeinde ausgerechnet ihnen einen unnützen Esser aufgehalst hatte. Dabei war es kein Wunder, dass Ruben nicht kräftig genug für die Feldarbeit war, so kurz wie er von den Grimauds gehalten wurde. Doch das war nun für immer vorbei. Ruben lächelte.
    »Endlich einer, der kein Gesicht zieht wie drei Tage Regenwetter!«, rief Prudhomme. »Ihr seid jung, ihr geht nach Paris, vor euch liegt das ganze Leben! Und wem habt ihr das zu verdanken? Mir, Jean-Pierre Prudhomme.« Er zupfte sich am Kragen, dann schlug er auf den Tisch. »Wirt, für jeden dieser jungen Herren einen Teller Kartoffeln mit Wurst!«
    Die Stimmung am Tisch verbesserte sich schlagartig. Die Jungen hoben die Köpfe, Ruben lief das Wasser im Mund zusammen. Bald stand vor jedem eine Schale mit dampfenden goldenen Kartoffeln, von denen Butter herablief, dazu gab es grob geschnittene Wurstscheiben, deren Duft alles Elend vergessen ließ. Die Jungen fielen über das Essen her, lächelnd betrachtet von ihrem Wohltäter.
    Nach dem Abendmahl führte Prudhomme seine Schar in den Pferdestall, wo sie sich im Stroh zusammenrollten. Ruben entging nicht, dass er von außen eine Kette vorlegte, doch ihm war das recht – so würde Grimaud nicht hereinkommen, selbst wenn er ihn aufspüren sollte.
    Er war schon beinahe eingeschlafen, als ihn ein gedämpftes Weinen neben sich aufschreckte. Undeutlich erkannte er, dass der Junge neben ihm seinen Kopf in der Armbeuge vergraben hatte und sein Körper von Schluchzern geschüttelt wurde.
    »He, hör auf zu flennen«, raunzte jemand, und das Schluchzen verstummte. Nur ein gelegentliches Schniefen war noch zu hören.
    »Was ist los?«, flüsterte Ruben.
    »Ich hab solches Heimweh«, kam es von links leise zurück.
    »Das vergeht. Und jetzt schlaf.«
    Wenig später wurden die Atemzüge des anderen gleichmäßig, aber nun war Ruben hellwach. Er fragte sich, wie es sich anfühlen mochte, Heimweh zu haben. Erst viel später schlief er endlich ein.
    Am folgenden Morgen kauerten sie alle schon vor Sonnenaufgang auf einem Fuhrwerk, das in Richtung Paris unterwegs war. Auf dem Kutschbock saß Monsieur Prudhomme persönlich und schwang die Peitsche, wobei er ein Liedchen pfiff. Hinten waren sie zu acht, zählte Ruben. Acht hungrige Jungen mit struppigem Haar und vorstehenden Schlüsselbeinen. Die ganz Kleinen sahen immer noch ängstlich aus und klammerten sich aneinander. Neben Ruben saß der Junge, der geweint hatte: Er war zwei oder drei Jahre jünger als er, mit sandfarbenem, borstigem Haar und runden Augen. Ruben stieß ihn sanft mit dem Ellbogen in die Seite.
    »Geht’s wieder?«
    Der andere nickte, aber seine Augen glänzten, als würde er gleich wieder anfangen zu weinen.
    »Wie heißt du?«, fragte Ruben rasch weiter, bevor die Tränen zu fließen begannen.
    »Henri Josse aus Coulours.« Der Junge schluckte.
    »Ich bin Ruben. Aus Vaumort. Ganz schön aufregend, dass wir bald in Paris sind, was?«
    »Ich wär lieber bei meiner Maman und bei meinen Schwestern«, sagte Henri leise.
    »Obwohl sie dich weggeschickt haben?«, fragte nun einer der anderen und spuckte gekonnt durch seine Zahnlücke über den Wagenrand. »Ich pfeif auf meine Alten, sollen sie doch verrecken!«
    Ruben sah ihn kurz an, worauf der Bursche mit den Schultern zuckte und schwieg.
    »Mein Vater ist an Wundbrand gestorben, weil er sich eine Axt ins Bein gehauen hat, und allein kann Maman uns nicht durchbringen. Ich bin der Älteste, weißt du?« Henri richtete sich etwas auf und schniefte. »Aber nächstes Frühjahr geh ich zurück, mit ’nem
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