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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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davon, mit Hilfe der Wissenschaft könnte man alle Geheimnisse der Welt ergründen. Ich glaubte, dass die Menschen durch Wissen fähig würden, sich ihres Verstandes zu bedienen, statt blind dem zu folgen, was man ihnen als gottgegeben vorsetzte. Aber wenn die Gesetze nicht von Gott gemacht sind, sondern von den Menschen, ist der König auch nur ein Mensch, der dem Gesetz genauso untersteht wie alle anderen.«
    »Ich kann mir denken, dass der König davon nicht begeistert war«, warf Julie ein.
    »Damals war die Zeit wohl noch nicht reif«, sagte ihr Vater. »Doch sie wird es bald sein, und wenn der König das nicht einsieht, wird er untergehen.«
    »Das hast du ihm gesagt?« Julie sperrte den Mund auf. »Ein Wunder, dass er dich nicht hat köpfen lassen.«
    »Es hätte ihm wohl leidgetan um einen guten Uhrmacher.«
    Drei dumpfe Schläge erschütterten die Wand, Putz rieselte herab.
    »Deine Mutter donnert mit der Suppenkelle gegen die Mauer«, sagte Julies Vater. »Wenn wir nicht zu Tisch kommen, wird sie uns köpfen.«
    Auch beim Abendessen ging es um die neuen Ideen, die Julies Eltern vertraten. Im Haus der Lagardes wurde gern und häufig die politische Lage erörtert. Victoire, das Dienstmädchen, teilte währenddessen die Suppe aus und setzte sich dann still an ihren Platz neben Julie. Es wurde kein Tischgebet gesprochen.
    »Diese Schmieranten mit ihren billigen Verunglimpfungen schaden der Sache nur«, sagte Julies Vater gerade zu Gabrielle. »Das erweckt kaum den Eindruck, dass das Volk reif genug ist, um sich selbst zu regieren. Und die Zeitungsschreiber machen es auch nicht besser. Gestern hat der aufgestachelte Pöbel in St. Germain einen Gerichtsbeamten aufgehängt.«
    »Vielleicht steckt hinter diesen Auftritten sogar die andere Seite«, sagte Julies Mutter ruhig. »Gewissen Leuten kommen solche Vorfälle gerade recht. Du weißt, was die Berater des Königs sind, Jacques.«
    »Nur zu gut. Aber ich stehe kurz vor dem Durchbruch. Im September kommt Plomion von St. Malo herüber, dann kann er es sich ansehen. Wenn wir zusammenarbeiten, kann unser Vorhaben gelingen.«
    Julie horchte auf. Worüber sprachen ihre Eltern da? Ihr war nicht entgangen, dass ihre Mutter nicht darauf hingewiesen hatte, wer die Berater des Königs waren, sondern was .
    Aber schon warf Gabrielle ihr einen Seitenblick zu und wechselte das Thema: »Übrigens hat Victoire heute das Mehl in der Rue Tripete einen Sou billiger bekommen.«
    »Wunderbar«, sagte Julies Vater viel zu überschwänglich. »Victoire, du bist dein Gewicht in Gold wert.«
    Julie fand das Kompliment zweifelhaft, denn Victoire war mager wie ein Besenstiel, aber das Dienstmädchen grinste geschmeichelt. »Die tun da auch nich so viel Eichelmehl rein in der Rue Tripete«, sagte sie mit ihrer leiernden Stimme.
    »Manche Bäcker machen inzwischen ihr Brot zum größten Teil aus Sägespänen«, warf Gabrielle ein. »Es ist eine Schande.«
    »Welch ein Glück, dass wir einen eigenen Backofen haben«, sagte Julies Vater.
    Sie stützte das Kinn in die Hand. Der Brotpreis und was die Bäcker alles benutzten, um ihren Brotteig zu strecken, war in den letzten Monaten als Gesprächsthema auf den Straßen und bei ihnen zu Hause noch beliebter als die Politik. Sie hätte allerdings viel lieber gewusst, was die Berater des Königs mit ihrem Vater zu tun hatten. War ihr Vater womöglich mehr als nur der Uhrmachermeister aus der Rue Mouffetard?

2
    Vaumort und Paris, März 1789
    R uben lag im Dunkel und lauschte. Grimaud hatte das Feuergelöscht und war zu seiner Frau und den beiden kleinsten Kindern ins Bett gekrochen. Ruben hörte, wie der Bauer sich herumwälzte und einige Fürze fahren ließ, und der Hass wallte in ihm auf wie kochende Milch. Seine Hand strich über die Beule an der Stirn, wo Grimaud ihn am Vortag mit einem Holzscheit geschlagen hatte. Ruben knirschte mit den Zähnen. Das Brotmesser vom Tisch nehmen und es in der Dunkelheit in Grimauds Leib zu rammen, bevor er ging, wäre ein Leichtes, aber er wusste, dass er nicht die Kaltblütigkeit dafür besaß.
    Als der Bauer zu schnarchen begann, stand Ruben auf. Der dünne Strohsack raschelte, und einige Herzschläge lang verharrte er reglos, wagte nicht einmal zu atmen, dann schlich er zur Tür. Die Ziegen, deren Verschlag nur durch ein Gatter vom Wohnraum getrennt war, scharrten im Stroh, eine meckerte leise. Ruben hielt wieder die Luft an, als Mutter Grimaud seufzte – doch sie schlief weiter. Mit zitternder Hand schob
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