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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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komm mit! Am Kirchplatz herrscht ein Riesenauflauf!«
    Er zog Julie hinter sich her, und gemeinsam tauchten sie in das Gewühl der Rue Mouffetard ein.
    Mochte Paris eine der größten Städte der Welt sein, Julie kümmerte es nicht. Die anderen Viertel lagen für sie genauso fern wie Konstantinopel. Ihr genügte die kleine Welt des Faubourg St. Mar cel, dessen schmutziges, lautes, übel riechendes, lebendiges und herr liches Herz »La Mouffe« bildete. Das Lärmen, das die Straße tag ein, tagaus erfüllte, war die Begleitmusik zu ihrem Leben und störte sie ebenso wenig wie der scharfe Geruch von Urin, der von den Gerbereien am Ufer der Bièvre heraufzog und sich mit dem Gestank aus den Kuttelmetzgereien vermischte. St. Marcel mit seiner Armut, seinen Bettlern, Handwerkern und Dieben war ihr Zuhause.
    Geschickt schlüpfte Julie an Fédérics Hand um einen Lastenträger herum, der eine Kommode auf dem Rücken trug und die Hälfte der Straße versperrte. Sie winkte im Laufen der Altkleiderhändlerin Mère Haillon zu, die aus ihrem Kellerloch lugte und Pfeife rauchte, und stieß beinahe mit einem Wasserverkäufer zusammen, sodass dessen Tragjoch aus dem Gleichgewicht geriet und er die Eimer absetzen musste.
    »Mistbande!«, schimpfte er hinter ihnen her.
    Fédéric drehte sich um und rief zurück: »Hab dich nicht so, du eingelegter Fliegenfurz!«
    Julie kicherte. Im Fluchen konnte es kaum einer mit Fédéric aufnehmen!
    Mit einem Blick versicherte sie sich, dass Songe noch bei ihr war. Die Katze bewegte sich geschmeidig in dem Gewirr aus Füßen. Mit Vergnügen schien sie sich zwischen den Beinen hindurchzuschlängeln und den Karrenrädern auszuweichen. Es war unmöglich, sie im Auge zu behalten; manchmal war sie an einem Ort, um ganz plötzlich mehrere Meter entfernt aufzutauchen. Julie wurde ganz schwindelig davon, aber sie hatte nie herausgefunden, wie Songe das gelang, denn die Katze weigerte sich beharrlich, ihr Geheimnis zu verraten.
    Auf Höhe des Kräuterhändlers fiel die gewundene Straße leicht ab. Julie schnupperte dem intensiven Duft nach Majoran nach, der für einige Schritte den üblichen Gestank verdrängte. Noch verlockender war der Geruch, der aus der Pastetenbäckerei drang – wenn auch die Füllungen der Pasteten von so ungewisser Herkunft waren, dass Julie noch nie gewagt hatte, eine zu probieren. Am Ladeneingang drängten sich mehrere Kinder mit spitzen Gesichtern, als beruhigte allein der Duft ihre leeren Mägen. Ihre Aureolen waren so matt, dass sie im Sonnenlicht kaum zu sehen waren. Nur zu gerne hätte Julie ihnen geholfen, doch es gab einfach zu viele von ihnen. Diese hohlwangigen Kinder vermehrten sich täglich, und in den Hauseingängen kauerten immer mehr Bettler, die mit den Straßenhunden um Essensreste kämpften. Die meisten Bewohner von St. Marcel konnten sich schon seit Monaten kein Brot mehr leisten, so hoch hatte die letzte Missernte den Mehlpreis getrieben.
    Zwanzig Schritte nach der Pastetenbäckerei wichen die eng gedrängten Häuser der Rue Mouffetard zurück und öffneten sich auf den Kirchplatz, wo sich unter den Bäumen eine Menschenmenge versammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis Julie begriff, weshalb: In der Mitte des Platzes stand auf einem umgedrehten Fass ein Mann, der große Papierbögen hoch hielt und zu den Umstehenden sprach.
    Fédéric bahnte sich und Julie einen Weg nach vorne, bis sie den Redner verstehen konnten.
    »… die hochwohlgeborenen Herren und Damen aber interessiert es nicht, ob ihr Volk leidet! Die Königin feiert allabendlich ausschweifende Feste, und die Tafel des Königs biegt sich unter der Last der Speisen, deren Reste anschließend den Schweinen zum Fraß vorgeworfen werden!« Julie wusste von ihrem Vater, dass das nicht stimmte, denn was von der königlichen Tafel übrig blieb, wurde von den Dienern verkauft, aber das schien der Mann nicht zu wissen. Er zeigte nun ein Bild, das den König und die Königin als Schweine darstellte. Die Herrscher Frankreichs waren mit Juwelen behängt und wälzten sich im Schlamm, wo sie kleine Gestalten zerquetschten, die flehend die Arme zum Himmel reckten.
    »Das sind wir, die da im Schlamm verrecken!«, brüllte der Mann auf dem Fass. »Statt aus Mehl Brot zu backen, pudert sich der Adel damit die Perücken. Eure Kinder hungern für die Eitelkeit dieser Schmarotzer!«
    Bei diesen Worten zog er einen Packen Papier aus seiner Jacke und warf ihn hoch. Als die Blätter über die Köpfe hinwegsegelten, reckten
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