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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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der Jungen in sein Dorf zurücklaufen konnte, hatte Prudhomme seine Freundlichkeit abgelegt wie einen alten Mantel. Womöglich hatte er ihnen lauter Lügen aufgetischt? Und war nicht ein ver trautes Unglück besser als eines, das man nicht kannte? Doch Ruben verjagte die trüben Gedanken und versuchte stattdessen, Henri aufzumuntern.
    »Wir werden bestimmt gute Lehrstellen kriegen und einen Beruf lernen«, sagte er. »Sonntags haben wir frei, gehen in die Kirche und danach in den Park, um uns hübsche Mädchen anzusehen.«
    »Klingt gar nicht so schlecht«, murmelte Henri schläfrig.
    »Wir werden uns schon amüsieren, wart’s nur ab.«
    Drei Tage später kam Paris in Sicht. Beim Anblick der dicht gedrängten Häuser fiel Ruben, ebenso wie den anderen, der Unterkiefer auf die Brust. Je näher sie dem Stadttor kamen, umso dichter wurde der Verkehr auf der Straße. Sie überholten ein Fuhrwerk voller Töpferwaren, kamen an einer Schafherde vorüber und fuhren beinahe einige alte Weiblein um, die unter dem Gewicht ihrer schweren Körbe fast zusammenbrachen. Am Stadttor mussten sie lange warten und rückten nur langsam vor, dann endlich durften sie passieren und fuhren in Paris ein.
    »Bah, hier mieft es!«, rief der Junge mit der Zahnlücke, und Ruben musste ihm recht geben. Der Geruch nach Exkrementen, menschlichen Ausdünstungen und Abfall vermengte sich zu einem widerlichen Gestank, der ihn würgen ließ. Doch er vergaß seinen Enkel, als sie weiter in die Stadt vordrangen. Nie hätte er sich vorstellen können, wie groß Paris war und wie unglaublich viele Menschen dort lebten, wie himmelhoch die Häuser aufragten und welcher Lärm die engen Straßen erfüllte! Plötzlich klopfte sein Herz erwartungsvoll. Wenn er irgendwo sein Glück machen konnte, dann hier: Er sah Laufburschen, die nicht älter waren als er selbst, Wasserträger mit einem Joch über den Schultern, Bäckerlehrlinge, die Brot austrugen. Da würde es auch für ihn und Henri viele Möglichkeiten geben, auch wenn Prudhomme bisher nur über ihre glänzende Zukunft gesprochen hatte, ohne zu erwähnen, welche Arbeit sie genau in Paris erwartete.
    Nach längerer Fahrt hielt der Wagen auf einem kleinen Platz, der von hohen, schmalen Häusern eingefasst wurde. Dort warte ten etwa drei Dutzend schwarz gekleidete Männer, die Prudhomme mit rauen Scherzen begrüßten und sich die Hälse nach den Jungen auf der Ladefläche verrenkten. Ruben sah, dass die kleineren Jungen sich vor den zerfurchten Gesichtern fürchteten, und auch ihm gefielen die Männer mit ihren harten, unfreundlichen Mienen nicht.
    »Hopp, hopp, aufstehen, damit die ehrenwerten Kaminkehrermeister von Paris euch sehen können!«, rief Prudhomme, der sich von seinem Kutschbock erhoben hatte.
    Die Männer drängten sich vor dem Wagen zusammen und rempelten sich gegenseitig an, um in die vorderste Reihe zu gelangen. Ruben kam sich dumm vor, so dazustehen und sich begaffen zu lassen. Kaminkehrer würden sie also sein. Er konnte sich darunter nicht viel vorstellen.
    »Ich habe hier acht kräftige Burschen vom Land«, verkündete Prudhomme, nachdem alle Gespräche verstummt waren. »Keine Pariser Hungerleider mit Schwindsucht. Sie strotzen vor Gesundheit und arbeiten wie Maulesel.« Er packte einen der Kleineren an den Schultern. »Der hier schlüpft durch den schmalsten Kamin, wendig wie er ist. Wir beginnen mit fünfundzwanzig Livres.«
    Hände hoben sich, und Ruben begriff, dass sie versteigert wurden wie Schweine auf dem Viehmarkt! Der Kleine, er hieß Luc und war die ganze Reise über recht still gewesen, ging für vierzig Livres weg, eine Summe, die Ruben sich nicht einmal vorstellen konnte. Als Nächstes wurde er selbst nach vorne gezogen. Er senkte den Blick und ballte die Fäuste.
    »Klein und wendig wie ein Frettchen«, rief Prudhomme. »Haltet ihn kurz, dann wird er kaum noch wachsen, aber zäh wie ein Stiefel bleiben!«
    Seine Sprüche schienen die Kaminkehrer zu überzeugen, denn es entbrannte ein regelrechter Kampf um Ruben. »Für achtundfünfzig Livres an François Givret!«, rief Prudhomme schließlich und versetzte Ruben einen Stoß, sodass er fast vom Wagen ge stürzt wäre. Monsieur Givret war ein kleiner, aber kräftiger Mann. Alles an ihm schien eckig zu sein, sogar sein Schädel war quadratisch und wurde von einem verbeulten Hut gekrönt. Seine Augen hielt er zusammengekniffen, als überlegte er ständig, wie er einen Vorteil für sich herausschlagen konnte – egal aus welcher
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