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Schieber

Schieber

Titel: Schieber
Autoren: C Rademacher
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Der Junge auf der Bombe
    Freitag, 30. Mai 1947
    Das Blut des toten Jungen überzieht wie ein Schleier die
englische 500-Pfund-Bombe. Licht flutet durch den zerstörten Dachstuhl einer
Lagerhalle auf die Leiche – und auf den Blindgänger, eine angerostete,
menschengroße Bombe, ein monströser Fisch, der sich in den Betonboden gegraben
hat. Der Rest der Halle ist in Dunkelheit getaucht. Der Junge und die Bombe
werden von der Sonne angestrahlt wie von einem Bühnenscheinwerfer, denkt
Oberinspektor Frank Stave von der Hamburger Kriminalpolizei.
    Er leitet eine kleine Gruppe der Mordkommission und müsste nun
eigentlich ermitteln, sollte sich den Toten und den Fundort ansehen, Zeugen
befragen, Spuren erkennen. Denn der zwölf, höchstens vierzehn Jahre alte Junge
hat ohne Frage einen gewaltsamen Tod erlitten. Stattdessen kauert er neben
einigen anderen Beamten hinter den verbogenen Stahlgestellen eines zerstörten
Krans und blickt durch ein Mauerloch in die Halle. Einzig ein Mann ist im
Gebäude, umkreist mit behutsamen Bewegungen die Bombe und den mageren Toten.
Einen kurzen Blick nur wirft er auf den Jungen, dann kniet er sich endlich vor
den Blindgänger und setzt vorsichtig eine große, schwarze Ledertasche ab, die
er bislang in seiner Rechten getragen hat.
    Ein Feuerwerker, der den Blindgänger entschärfen soll. Solange der
Zünder noch aktiv ist, wäre es für die Kripobeamten viel zu gefährlich, sich
dem Toten zu nähern.
    Hoffentlich zerstört der mir keine Spuren, denkt Stave.
    Ein Telefonanruf zu Dienstbeginn hat den Oberinspektor
alarmiert. Er hat sich einige Schupos genommen und ist von der Kripo-Zentrale
am Karl-Muck-Platz aufgebrochen – Jungen, noch grün hinter den Ohren,
eingestellt von den englischen Besatzungsoffizieren. Stave erkennt
Hauptpolizist Heinrich Ruge wieder, der ihn schon bei früheren Einsätzen
begleitet hat.
    »Der Tote wird uns nicht davonlaufen«, hatte der ihm zugerufen,
etwas zu forsch.
    Stave hatte geschwiegen und nur mitleidig auf den Schupo geblickt,
dem der Schweiß unter dem Tschako hervortrat und ihm die Schläfen herabrann.
»Dunstkiepe« schmähen die blau uniformierten Polizisten ihre hohe, unbequeme
Haube schon zu normalen Zeiten.
    Aber nun ist es 30 Grad heiß.
    Stave erinnert sich schaudernd an den vergangenen Winter: ein
gnadenloses halbes Jahr, in dem das Thermometer meist zwischen minus 10 und
minus 20 Grad anzeigte – und manchmal noch darunter. Und nun ein Frühling, so
heiß wie seit Menschengedenken keiner mehr. Es ist, als wollte nach den
Menschen nun das Wetter verrücktspielen.
    Immerhin ist der Krieg vorbei, macht sich der Oberinspektor Mut.
Neben ihm hocken Ruge und fünf weitere Schupos hinter der Deckung des
zerstörten Krans. Die Sonne steht schräg über ihnen, kein schützender Schatten
in der Umgebung. Er riecht ihre Ausdünstungen. Ob es nur die Hitze ist? Oder ob
ihnen auch die Angst das Wasser aus der Haut treibt?
    Neben den Uniformierten kauert ein kleiner, dürrer, rothaariger
Mann, dessen sommersprossiges Gesicht bereits unter einem Sonnenbrand glüht:
Ansgar Kienle, Polizeifotograf und, mangels anderer Spezialisten, zugleich
einziger Spurensicherer der Krimsches von Hamburg.
    Noch verbrannter leuchtet das kahle Haupt von Dr. Alfred Czrisini.
Stave hat den Pathologen angerufen. Der hat sich, da er gerade Besuch von einem
englischen Fachkollegen hatte, kurzerhand dessen Jeep ausgeborgt und war zum
Fundort der Leiche geeilt, wo er wieder einmal vor den Kripobeamten
eingetroffen war. Unter seinem Sonnenbrand wirkt er blass. Mit fahrigen Händen
steckt er sich eine Woodbine zwischen die Lippen.
    »Meinen Sie, dass es eine gute Idee ist, zu rauchen, wenn neben uns
eine 500-Pfund-Bombe entschärft wird?«, zischt Stave dem Pathologen zu. Er weiß
allerdings, dass nichts und niemand – und schon gar keine Bombe – Dr. Czrisini
je von seinen Zigaretten abhalten könnte. Der Arzt lächelt bloß und schüttelt
den Kopf. Der Qualm seiner Zigarette ist eine winzige bläuliche Fahne in einem
Ruinenfeld. Stave hat sich und seine Männer mit einer Barkasse auf die andere
Elbseite nach Steinwerder übersetzen lassen. Blohm & Voss liegt auf dem
hammerförmigen Kopf einer Halbinsel am Südufer der Elbe: Zwei riesige Docks
parallel zum Fluss, ein weiteres, das quer davor wie ein gigantisches Schwert
ins Land hineinsticht. Rechts hinter den beiden großen Docks noch ein Becken.
Auf dem Gelände langgestreckte Backsteinhallen, Kräne, aufgereiht
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